„Vierlinge mit 65: Ideologin der Machbarkeit“ betitelt Jakob Augstein seine Kolumne dieser Woche bei Spiegel Online – und hat diesmal nicht wie sonst daneben gegriffen.
Jakob Augstein Salonsozialismus vorzuwerfen ist sicher nicht ganz abwegig, ich bin nicht mal sicher, ob er diese Beschreibung nicht sogar als Kompliment auffassen würde. Ich lese seine Online-Kolumne auf Spiegel Online unter dem Titel „Im Zweifel links“ jedenfalls ab und zu – und bekomme dann meistens hohen Blutdruck über das Maß an wirtschaftlichem und politischem Unverstand, der dort verbreitet wird. Ein Blick über den Tellerrand – und sei es in „Feindesland“ – hat aber noch niemandem geschadet.
In dieser Woche hat er aber einen Kommentar zur durch die Medien berichteten Schwangerschaft der 65-järhigen Annegret Raunigk, die Vierlinge erwartet, verfasst, der in weiten Teilen treffend ist. Das Fazit eigentlich schon direkt am Anfang des Beitrags:
Frau Raunigk aus Berlin ist nicht allein. Sie treibt den Wahn der Optimierungsgesellschaft nur an seine äußerste Grenze: Mehr! Besser! Jetzt! Wo früher Schicksal war, soll totale Kontrolle sein. Auf der Strecke bleibt die Menschlichkeit.
Das ist eine Kritik an den Verhältnissen, die fast schon ins christliche Lager passen würde. Und Augstein sieht auch die Pferdefüße an der Kritik, die daran auch von der politischen Linken geübt werden:
Lauterbach sagt: „Aus ärztlicher und ethischer Sicht wird hier eine Grenze überschritten. Wir wissen aus Erfahrung, dass es bei künstlichen Befruchtungen im hohen Alter ein erhebliches Risiko von Frühgeburten und Untergewicht gibt.“
Da wird es interessant: Was meint der SPD-Ethiker? Sind nur Geburten ohne Risiko gute Geburten? Es liegt auf der Hand, dass dieser Gedanke nicht gut endet: Sollen Paare, die mit Erbkrankheiten belastet sind, besser keine Kinder bekommen? Und was, wenn in der Schwangerschaftsdiagnostik eine Behinderung festgestellt wird?
Im folgenden diagnostiziert Augstein das Geschehen als Symptome des Liberalismus, was insofern nicht ganz von der Hand zu weisen ist, als es letztlich so etwas (!) wie ein Gedanke der Freiheit ist, der einen dazu führen kann, einfach alles zuzulassen, was machbar ist. Freiheit in der Form auszunutzen, dass sie niemandem schadet, ist die Prämisse, die auch Frau Raunigk für sich in Anspruch nimmt. Freiheit – aus christlicher Sicht – beinhaltet aber auch Verantwortung: Die von Augstein verneinte Frage, ob Frau Raunigk „das darf“, wäre also insofern aus legalistischer Sicht zu bejahen, das lässt aber die moralische Komponente außen vor.
Das sieht Augstein übrigens auch so:
Frau Raunigk redet von Freiheit. In Wahrheit predigt sie die Ideologie der Machbarkeit, und die ist eine Ideologie der Unmenschlichkeit. Im Kampf gegen den Schmerz, den Verlust, den Verzicht, die Krankheit wird alle Macht der Wissenschaft aufgebracht. Am Ende steht mit der Sterbehilfe noch das Ideal des selbstgewählten Todes als perfekte Illusion der vollkommenen Souveränität.
Wir werden dahin kommen, dass sich schuldig macht, wer krank ist. Dass sich verdächtig macht, wer seine Karriere für die Familie opfert. Dass als Zumutung betrachtet wird, wer hässlich ist. Und dass der Unglückliche als einer gilt, der sich nicht genug bemüht hat. Am Ende wird der Wert des Lebens in Opportunitätskosten berechnet. Der Schattenpreis jeder nicht genutzten Chance wird dem Verschwender bei der Bilanz als Debet angelastet.
Aber wo Leid Versagen bedeutet, weicht das Mitleid der Verachtung. Und wer die Fähigkeit zum Leiden verliert, verliert am Ende auch die Fähigkeit zum Mitleid – und damit die Menschlichkeit.
Augstein hat Recht: Menschen wie Frau Raunigk haben das Prinzip der „Freiheit“ nicht verstanden, weil sie es als Erlaubnis betrachten, alles zu tun, was geht (oder irgendwo auf der Welt, wenn auch nicht in Deutschland) erlaubt ist. Die Ursachen dafür, dass dem neben ihr wohl viele andere Menschen zustimmen, auch wenn sie diese Vierlingsschwangerschaft als „Kuriosum“ in den Boulevardmedien wahrnehmen, wären noch zu analysieren. Im Grunde ist Augsteins Argumentation (ein paar Stellen, die dazu nicht passen habe ich – zugegeben – nicht erwähnt) aber zutiefst vernünftig, christlich, und eigentlich auch liberal – jedenfalls dann, wenn man Freiheit nicht ohne Verantwortung deutet und sich klar wird über die „Sklaverei“, unter die einen Freiheit bringen kann, wenn man dem falschen „Götzen“ opfert, sei es dem der Machbarkeit, dem des Geldes oder dem der Selbstverwirklichung.
Sieht Augstein also in alldem offenbar ein Argument gegen den Liberalismus sehe ich darin ein Argument für den christlichen Liberalismus. André Lichtschlag. Herausgeber der eigentümlich frei, habe ich mal bei einer Veranstaltung den folgenden Satz (ungefährer O-Ton) sagen hören: “ Sollten Christen Libertäre sein? Sollten Libertäre Christen sein? Nicht notwendigerweise aber: Besser wär’s!“ Ich nehme nicht an, dass Jakob Augstein noch zum libertären Christen oder christlichen Libertären mutiert … aber eigentlich fehlt von seinen Gedanken ausgehend dazu nicht mehr viel!