Für die Flüchtlingskrise bräuchte man eine Solidargemeinschaft. Leider haben wir nur einen Sozialstaat.
„Eltern haften für ihre Kinder“ – so steht es an vielen Baustellen. Das soll deutlich machen, dass Kinder für Schäden, die sie verursachen oft nicht haften, man in dem Fall aber die Eltern zur Haftung heranziehen wird. Die Überlegung dahinter ist einerseits die, dass man Kindern in vielen Fällen die Einsicht in die Konsequenzen ihres Handelns nicht zutrauen kann, der Rechtsstaat deshalb von einer Haftung altersgemäß absieht, ein potenziell Geschädigter aber nicht einfach ohne Haftenden da stehen sollte. Da die Eltern eine Erziehungs- und Aufsichtspflicht haben, haften sie denn auch, wenn sie dem nicht oder nicht ausreichend nachkommen – mit möglicherweise horrenden Folgen, je nachdem, was die Kleinen so anstellen.
Umgekehrt „haften“ aber auch Kinder für die Taten ihrer Eltern: In dem Fall zunächst mal nicht rechtlich, aber sie tragen die Konsequenzen aus den Taten ihrer Eltern. Wenn sich Eltern entscheiden, während der Schulzeit ihrer Kinder den Wohnort zu wechseln, dann müssen sie mit, die Schule wechseln, werden Freunde verlieren … je nach Art der Elternentscheidung können die Konsequenzen der Kinder für Elternentscheidungen ebenfalls horrend sein, zumindest mal in ihren eigenen Augen, aber auch objektiv hinsichtlich ihrer Lebensumstände: Wenn jemand entscheidet, seinen Job hinzuschmeißen oder die Familie zu verlassen, tragen die Kinder schwerwiegende Konsequenzen, für deren Ursachen sie nichts können.
Aber gibt es so etwas nur zwischen Eltern und ihren Kindern? Oder gibt es auch eine Verantwortungsübernahme für Dinge, für die ich nichts kann, deren Konsequenzen mich aber trotzdem treffen werden? Das ist insofern kritisch, weil in dem Fall die Freiwilligkeit entweder überhaupt nicht gegeben ist oder zumindest eingeschränkt wird. Das mag wiederum Kinder betreffen: Wenn ich in der Nachbarschaft beobachte, dass ein Kind geschlagen wird, dann werde ich nicht umhin kommen, mich irgendwie dazu zu verhalten, und werde dazu die Konsequenzen übernehmen müssen. Selbst ohne strafrechtliche Konsequenzen, die vielleicht drohen könnten, würde ich mit einem schlechten Gewissen leben müssen, wenn ich mich nicht einmische oder mit einer verschlechterten Nachbarschaftsbeziehung wenn ich es doch tue. Ich habe mich nicht frei entschieden, mich einer solchen Situation auszusetzen, und doch bin ich gezwungen, zu reagieren.
Was im familiären Umfeld oder im Umgang mit Kindern gilt, kommt auch ganz generell zum Tragen: Wenn jemand anderes, in meinem Umfeld oder auch weiter entfernt stehend, in Not gerät, egal ob ich etwas dazu kann, bin ich wiederum gezwungen, mich dazu zu verhalten. Ich kann es ignorieren und in Kauf nehmen, dass es demjenigen immer schlechter geht, oder ich kann versuchen nach meinen Möglichkeiten zu helfen. Ich bin nicht freiwillig in die Situation geraten, mich zu entscheiden, und muss es doch tun und für die daraus entstehende Entscheidung trage ich eben auch Verantwortung. Spätestens hier wird also deutlich, dass Freiheit nicht absolut gesetzt werden kann, weil wir zwar alle Individuen sind, aber in Gemeinschaft mit anderen leben. Ein Eremit kann seine Verantwortungsübernahme deutlich reduzieren, aber erstens ist auch die zu Ende, wenn jemand an seine Tür klopft (und er sich entscheiden muss, ob er öffnet) und zweitens halten diesen Lebensstil auch wohl die wenigsten für sich persönlich für erstrebenswert.
Je größer und komplexer die Beziehungen werden, umso schwieriger wird die Reaktion darauf sein: Als Einzelner kann ich nicht jedem in Not geratenen Menschen in meiner Stadt oder meinem Land helfen, aber ich kann meinen Teil dazu beitragen. Und jetzt wird es schwierig, weil bisher zumindest die Reaktion auf Freiwilligkeit beruhte: Ich bin gezwungen, auf bestimmte Situation zu reagieren, aber die Art der Reaktion ist mir selbst überlassen. Gerade bei sozialen Fragestellungen – also der Frage, ob ich jemanden in Not helfen will – ist das auch eine Frage des Gewissens, ja, auch der Abwägung, welchen eigenen Anteil der in Not geratene an seiner Situation trägt. Das Prinzip der Freiwilligkeit herrscht hier vor, und das sollte es auch im großen Maßstab. Kommt beispielsweise eine Naturkatastrophe über Teile des Landes, dann ist in der Regel die Spendenbereitschaft recht hoch: Man ist nicht rechtlich verpflichtet zu helfen und doch spüren viele einen Drang dazu. Ihr Gewissen sagt ihnen, dass sie hier helfen können und sollten, und sie tun es dann auch.
Auf diese Art und Weise kann eine Solidargemeinschaft entstehen, in der man sich gegenseitig hilft. So funktionieren nicht wenige Vereine oder Verbindungen, Orden oder auch Gemeindeinstitutionen. Man übernimmt füreinander Verantwortung, ist sich in der Regel aber auch darüber im Klaren, dass dies nicht die Eigenverantwortung ausschließt. Es ist – nüchtern betrachtet – ein soziales Geflecht, basierend auf Freiwilligkeit, dass in Not geratene Mitglieder auffängt. Manche organisieren sich auch gemeinnützig, indem sie auch anderen Menschen helfen oder Zwecken dienen, die nicht zu diesem Verein gehören – das Stichwort aber auch hier: Freiwilligkeit!
Im Gegensatz dazu steht der Staat, besonders der Sozialstaat: Vorgeblich aus Gründen der Organisation und der Gerechtigkeit werden die Bürger eines Staates nun gezwungen, anderen zu helfen. Die Eigenverantwortung lässt dann sukzessive nach und wird auf Umwegen vom Staat durch bestimmte Leistungsbedingungen notdürftig imitiert. In Not geratene erhalten Leistungen aus Geldern, die von den Bürgern erbracht werden, ohne das die noch einen direkten Einfluss auf die Verwendung hätten. Freiwilligkeit ist abgeschafft – wundert es da irgendjemanden, dass diejenigen die „netto“ zahlen, genau hinschauen, an wen die Leistungen gehen? In jedem Sommerloch gibt es in den Boulevardmedien Berichte von Hartz-IV-Empfängern, die sich einen lauen Lenz machen oder einen üppigen Urlaub bezahlt bekommen. Kann das mit rechten Dingen zugehen? Als „Sozialneid“ wird dann verunglimpft, was ein berechtigtes Interesse an der zumindest sachgerechten Verwendung der Mittel darstellt, die einem zwangsweise genommen wurden.
Da dem Sozialstaat die Komponente der Freiwilligkeit fehlt, sind in ihm also Konflikte programmiert, ganz abgesehen von tatsächlichen Fehlsteuerungen, die er verursacht, wenn die Fage, ob man einer geregelten Arbeit nachgeht oder lieber Transferleistungen bezieht, zu einem Rechenexempel verkommt. Mit viel zusätzlicher Solidarität kann man da nicht mehr rechnen, schließlich hat man ja als Nettosteuerzahler schon für alle Gelegenheiten bezahlt. Kommt es dann zu besonderen Situationen, wie wir sie jetzt in der Flüchtlingskrise sehen, bekommt das ganze ein eigenes Gesicht. So deute ich jedenfalls viele der kritischen Kommentare, die mich auf meinen Beitrag „Flüchtlingspolitik: Logik, Gefühl und die Macht der Bilder“ erreicht haben (zum Beispiel nachzulesen auch hier).
Keine Sorge, das wird kein Leserbashing, auch kein Kritikerbashing, aber ich habe mich doch gefragt, wie manche zu der Einschätzung kommen, dass man gegenüber den Kindern, die mit den Flüchtlingen ins Land kommen, keine Verantwortung trage, weil es doch die Eltern waren, die ihren Kindern die Reise zugemutet haben, weil es doch die Regierung war, die über eine Politik des „freundlichen Gesichts“ und des „Wir schaffen das“ einen großen Teil der Flüchtlinge erst noch angezogen hat. Und nun kommen hunderttausende, in den Startlöchern stehen Millionen, die nach Westeuropa und vorzugsweise nach Deutschland wollen, die dafür Risiken in Kauf nehmen, getrieben durch legitime Fluchtursachen wie Krieg oder Verfolgung, aber auch durch die Aussicht auf bessere Lebensbedingungen. Und die meisten von ihnen, das gestehen inzwischen sogar linksstehende Politiker ein, wandern in die deutschen Sozialsysteme ein und werden auf Sicht keinen wirtschaftlichen Gewinn für die Bundesrepublik darstellen, also „netto“ auf Unterstützung angewiesen sein.
Bin ich persönlich dafür verantwortlich, dass diese Flüchtlinge hierher kommen? Wohl kaum. Bin ich persönlich verantwortlich, wenn sie ihre Kinder mitnehmen, die dabei Strapazen ausgesetzt sind, die man keinem Erwachsenen zumuten wollen würde? Auch nicht. Bin ich persönlich verantwortlich für das kleine Mädchen auf dem Bild aus meinem Beitrag, dass in der Kälte im Freien von einem Plastikteller isst? Nein, bin ich nicht. Aber ich kann auch nicht so tun, als ob es die Menschen nicht gäbe, als ob es diese Kinder nicht gäbe – und auch wenn ich nicht darum gebeten habe: Ich muss mich dazu verhalten! Ignorieren, Hilfe ablehnen, Hilfe leisten … und wenn, in welchem Umfang? Und aufgrund der schieren Masse der Menschen kann das nicht einfach einzeln organisiert werden. So ein Mädchen bei uns zu Hause aufzunehmen? Warum nicht. Die ganze Familie? Wird bei den meisten am Platz scheitern. Und die anderen? Pech gehabt?
Wenn’s gut läuft, greift in solchen Situationen, wie bei den oben genannten Naturkatastrophen, die Solidargemeinschaft helfend ein. Manche spenden Geld, andere helfen praktisch, stellen Arbeit oder Sachmittel zur Verfügung. Das passiert auch jetzt, aber offenbar nicht in ausreichendem Umfang – und voilà, der Staat tritt auf und versucht – vermeintlich – zu helfen. Die Freiwilligkeit der Leistung ist durch den Sozialstaat abtrainiert, da „muss“ also jetzt der Staat zwingend einspringen, finanziert aus Steuergeldern, die nicht freiwillig gezahlt werden. Ist es da ein Wunder, dass diejenigen, die zahlen, genau hinschauen, wo das Geld hingeht? Ob da nicht doch ein Großteil „Wirtschaftsflüchtlinge“ darunter sind? Ob es nicht verkappte Islamisten sind, die die westliche Gesellschaft unterwandern und sich von ihr dafür auch noch bezahlen lassen wollen? Ob es nicht andere Verantwortliche für das Leiden von Kindern und Kranken gibt, als „den deutschen Steuermichel“?
Über all das redet kaum jemand, weil das in der Tat das deutsche Sozialsystem in Frage stellen müsste. Ich glaube nicht, dass diejenigen, die sich über meinen Beitrag echauffieren, ein Kind, dass ihnen ins Auge sieht, verhungern oder erfrieren lassen würde, egal ob sie Verantwortung für seine Situation tragen oder nicht. Sie würden vermutlich auch einer Familie in ihrer Nachbarschaft helfen, die in Not geraten ist. Aber über den Umweg des Sozialstaates ist das schon weniger klar.
In den letzten Wochen war immer die Rede davon ob und wie „wir“ als Gesellschaft uns ändern müssen. Da steht womöglich eine der dramatischsten Änderungen am Horizont: Der Sozialstaat zeigt deutlich seine Schwächen und man muss sie ins Rampenlicht zerren, damit sie deutlich werden. Was notwendig ist, ist eine auf Freiwilligkeit basierende Solidargemeinschaft, die sich auch denjenigen Herausforderungen stellt, für die sie nicht unmittelbar verantwortlich ist. Das ist – zugegeben – noch kein politisches Programm, der Weg dahin wird alles andere als einfach. Aber ich halte ihn für zwingend – und diesen Wandel dürfen wir durchaus begrüßen!