Ist Sicherheit das Supergrundrecht? Vorstellbar sind Maßnahmen, die der Sicherheit dienen ohne die Freiheit zu belasten – politischer Wille vorausgesetzt.
An martialischen Forderungen fehlt es nicht: Grenzen komplett zu! Moscheen schließen! Sicherheit als Super-Grundrecht! Woher sowas kommt, ist in den vergangenen Tagen wohl klar geworden. Die Situation in Europa hat sich nicht nur gefühlt verschärft. Wenn man sieht, dass einer der Attentäter, die den 86 Jahre alten Jahre Priester mit einem Messer ermordet haben, eine Fußfessel trug und eigentlich unter Hausarrest stand, weil bekannt war, dass von ihm eine Terrorismusgefahr ausgeht, versteht man, wie groß das Problem eigentlich ist. Der Umgang mit dem Mörder war vermutlich rechtsstaatlich, sein Verhalten aber eben nicht. Seine Botschaft lautet: „Ihr könnt mich jagen, Ihr könnt mich einsperren, Ihr könnt mir Fußfesseln anlegen … ich werde Eure Euch, Eure Gesellschaft, Euren Glauben, Eure Kirchen, Eure Priester trotzdem eingreifen. Und Ihr könnt aufgrund Eurer eigenen Gesetze nichts dagegen tun!“Diese Botschaft muss richtig verstanden werden: Was heute den Terror möglich macht, muss auf den Prüfstand, ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten. Die zur Mäßigung mahnenden Stimmen haben im Moment nicht gerade Konjunktur, und das ist nur allzu verständlich. Wer versucht, die Taten von Würzburg oder Reutlingen, die Morde in München, die Anschläge in Paris oder Nizza mit einem schlecht gekauten Brötchen zu vergleichen, der verunglimpft nicht nur die Opfer. Der hat auch nicht verstanden, dass das keine Frage von Statistiken sondern der Kriegsführung ist. IS und radikale Islamisten befinden sich im Krieg – und ob wir wollen oder nicht: Wir sind ein Teil davon.
Sicherheit oder Freiheit
Die Falken in der Politik bekommen in solch einer Situation natürlich Oberwasser. Diejenigen, die Kontrolle aller Bürger schon immer für die bessere Idee hielten. Und die Bedrohungslage ist in der Tat allumfassend. Nach den Anschlägen vom 11. September hatte ich mit einem Freund darüber gesprochen, was ich tun würde, wenn ich ein islamistischer Terrorist wäre, im Kampf nicht gegen eine bestimmte Regierung sondern gegen Lebensweisen, fremde Religionen, gegen die Ungläubigen. Frappierend, wie nahe die jetzige Situation meinen damaligen „Ideen“ kommt: Angriffe nicht (oder nicht nur) im großen Stil wie 9/11, sondern Nadelstiche. Angriffe auf Kirchen, die in ihrer hohen Anzahl kaum zu schützen sind. Angriffe auf kleine Volksfeste und Veranstaltungen, bei denen bislang niemand damit rechnet, weil sie keinen besonderen Symbolwert haben. Haben sie aber doch, eben weil sie unwichtig erscheinen: Wenn ein Dorfschützenfest oder eine kleine Musikveranstaltung Ziel des Terrors wird, wo gibt es dann noch Sicherheit?
Aber weder wollen wir solche Veranstaltungen, solche Orte und Räume hermetisch abriegeln, noch die Angst vor dem Terror überhand nehmen lassen. Die trügerische Sicherheit, die man dadurch gewönne – trügerisch deshalb, weil die Phantasie eines Islamistenhirns sicher erfinderischer ist als jede Idee zur Steigerung der Sicherheit – würde erkauft durch eine deutliche Einschränkung des Lebensstils. Den Satz über das Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit muss ich sicher nicht noch mal wiederholen. Darum bin ich zwar erleichtert, dass beispielsweise der bayerische Ministerpräsident und sein Innenminister die Gefahr zumindest ernst nehmen, aber auch besorgt, wenn sie weitreichende Sicherheitsmaßnahmen ankündigen.
Privatisierung der Sicherheit
Was aber nun tun? Der Staat kann schlicht die Sicherheit der Menschen nicht überall garantieren, macht bislang schon keinen guten Job. Was sollte einen glauben lassen, der Staat könne das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung überhaupt adäquat gewährleisten? Dass die Politik den Sicherheitsorganen eher im Weg steht und man sich mit No-Go-Areas aus bestimmten Bereichen unberechtigt heraus zieht, bedeutet umgekehrt ja nicht, dass man vollständige Sicherheit mit genügend gutem Willen erzeugen könnte. Darum kommt es auf den einzelnen an und darauf, in kleinen Einheiten – im besten Sinne subsidiär – für Sicherheit zu sorgen.
Kameraüberwachung in öffentlichen Straßen kann einen nervös machen, wenn man staatliche Kräfte dahinter sieht. Was aber, wenn es die Privatinititative von Anwohnern oder dort ansässigen Geschäftsleuten wäre, die private Sicherheitsdienste beauftragt? Der Staat wird nicht ganze Wohngebiete sichern können, aber Eigentümer und Vermieter können einen privaten Wachschutz organisieren, der unregelmäßig patroulliert. Kirchengemeinden können – auch bei offenen Türen – für ein Mindestmaß an Sicherheit sorgen durch Wachpersonal, das, wenn nicht mehr, zumindest abschreckt. Was jeder Supermarkt in den Abendstunden hinbekommt, sollte auch in der deutschen Kirchensteuerkirche finanzierbar sein.
Ethnisches Profiling
Und wenn man schon „out of the box“ denkt, kann man vielleicht auch von den Ländern lernen, die schon seit Jahrzehnten mit dem Terror leben. Interessant ist ein Beitrag in der WELT, in der über „ethnisches Profiling“ in Israel berichtet wird. Was grüne Gutmenschen die Hände über den Kopf zusammen schlagen lässt, ist einfach praktisch. Wenn ich nicht jeden Menschen in gleicher Weise beim Betreten eines öffentlichen Raumes wie einem Volksfest oder einem Einkaufszentrum überwachen kann, dann doch wenigstens die, von denen statistisch gesehen eine hohe Terrorgefahr ausgeht?
Eliyah Havemann, IT-Spezialist aus Israel, berichtet also über das Einkaufszentrum Malcha in Jerusalem, vor dessen Betreten man durch einen Sicherheitscheck muss, bei dem aber offensichtliche Muslime schärfer untersucht werden als andere Kunden. Malche ist, so der Autor, nur eines von vielen Beispielen, bei denen „arabische Muslime […] schärfer kontrolliert [werden]. Schärfer als Juden, als die vielen philippinischen Gastarbeiter, als alle.“ Und er führt aus:
Sie verstehen deutlich, warum sie hier so behandelt werden: So ziemlich alle Attentate in diesem Land werden von arabischen Muslimen begangen. Warum sollte man also die übrigen Menschen noch zusätzlich behelligen, aus deren Reihen niemals Attentate verübt werden?
Es ist nicht politisch korrekt. Das weiß ich, und das weiß jeder hier. Aber es ist einfach verdammt praktisch, und zwar für alle, auch die Muslime: Es spart Ressourcen. Es sorgt für ein friedliches Nebeneinander in den gesicherten Bereichen, es muss also niemand seinen Nachbarn verschämt verdächtigen. Und es verhindert lange Schlangen vor den Sicherheitskontrollen, die nicht nur alle nerven würden, sie böten auch selbst ein einfaches Anschlagsziel.
Praktischer, nicht rassistischer Generalverdacht
Warum sollte, was in Israel geht, nicht auch in Deutschland oder Frankreich gehen? Politisch ist das schwer umzusetzen, aber eine Regierung, die hier Handlungsfähigkeit zeigte, würde das Heft wieder in die Hand nehmen – und Augenmaß beweisen. Denn grundsätzlich, so sieht es auch Havemann, entspricht das israelische Vorgehen einem Generalverdacht für alle, „aber Gruppen, deren Mitglieder erfahrungsgemäß selten bis nie Anschläge ausführen (wie Rentner oder Biergartenbesucher), bekommen einen Vertrauensbonus. Und nach einer leider notwendigen Sicherheitskontrolle sind wieder alle gleich. Wie im Einkaufszentrum Malcha in Jerusalem.“
Eine Unterscheidung nach den beschriebenen Kriterien, dem Wortsinne nach eine „Diskriminierung“ spiegelt praktische Erfahrungen wieder, erhöht dadurch die Sicherheit, ohne sie natürlich garantieren zu können. Und auch hier mag der Umstand, dass private Sicherheitsdienste diese Arbeiten übernehmen können, zur Akzeptanz beitragen. Möglicherweise müssen für ein solches Vorgehen sogar Gesetze geändert werden, beispielsweise für den Fall, dass ein Kaufhausbetreiber unter bestimmten Bedingungen auf Grundlage eines ethnischen Profilings bestimmten Kundengruppen den Zutritt verwehren möchte. Da ihm dadurch aber auch Geschäft entgeht – wer sollte die Entscheidung treffen dürfen, wenn nicht er? Das ist nicht rassistisch, das ist erstens praktisch und zweitens freiheitlich. Wenn und so lange sich der Staat raushält, der nach anderen Kriterien agieren muss.
Politische Rahmenbedingungen
Das alles wird aber zur Sisyphos-Arbeit, wenn die Rahmenbedingungen zu einer Entschärfung der Situation nicht geschaffen werden. Tausende Migranten von denen niemand weiß, woher sie kommen und wo sie sich aufhalten? Das ist kein Zustand, den ein Land in einer solchen Situation tolerieren kann. Die Forderung nach Schließung der Grenzen ist gegenüber echten Flüchtlingen ethisch nicht zu vertreten. Aber diejenigen abzuweisen, die ihre Herkunft und den potenziellen Anspruch auf Asyl oder Aufenthalt nicht direkt nachweisen können, das ist hoheitliche und hohe Aufgabe des Staates (die nebenbei auch, aber nur mit erheblich mehr Aufwand zu privatisieren wäre).
Diejenigen auszuweisen, die durch Straftaten ihr Gastrecht missbrauchen, ist eine Option, die – wenn sie derzeit rechtlich verschlossen sein sollte – eröffnet werden muss. Sich von einem Rechtsbrecher moralisch erpressen zu lassen, dass man ihn nicht in ein Kriegsgebiet ausweisen dürfe, ist eine Zwickmühle, in die ein Rechtsstaat nicht geraten darf. Wohlgemerkt, ich spreche nicht von einem Strafzettel, nicht mal von einen kleinen Diebstahl, aber wer durch seine Taten deutlich macht, dass er das gemeinsame Wertesysten, auf dem die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft fußt, generell ablehnt, muss eine solche Konsequenz spüren.
Politische Realität
Obige Maßnahmen wären, politischer Wille vorausgesetzt, machbar, würden die Sicherheit verbessern ohne die Freiheit zu sehr einzuschränken. In einer Welt, in der eine extremistische Gruppe allen anderen den Krieg erklärt hat, wird man ohne zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen nicht auskommen, es sei denn, man will sich in einem „Kokon“ vom Rest der Welt aus- oder besser einsperren. Das ist die Realität, die auch die zur Kenntnis nehmen müssen, die die alleinige Verantwortung bei der Regierung sehen, von der sie nun erwarten, sie möge den vorherigen Zustand wiederherstellen. Das wird nicht passieren, das wird auch ein politischer Richtungswechsel nicht bewerkstelligen können.
Solche Art von Maßnahmen setzen aber auch die Einsicht voraus, dass eine Veränderung notwendig ist. Sie setzen voraus, dass man die Bedrohungslage auch als solche benennt und reagieren will. Außerdem setzen sie voraus, zumindest Fehlentwicklungen einzugestehen, wobei man davon ausgehen muss, dass der politische Gegner sie ausschlachten wird. Sie setzen also politischen Mut und Initiative voraus. Ich bin skeptisch, ob diese Einsicht und dieser Mut vorhanden ist. Ich sehe allerdings in der Tat keine Alternative, will man nicht einer weiteren Eskalation – terroristisch, politisch und gesellschaftlich – Vorschub leisten.