In seiner Ansprache an die Mitglieder des beim Vatikan akkreditierten diplomatischen Korps vom vergangenen Montag weist der Papst auf Fehlentwicklungen hin. Auch wenn es nicht danach aussieht: Von da aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zum libertären Gedanken.
Ich halte den Papst ja für einen vernünftigen Menschen. Der eine oder andere sieht in Papst Benedikt einen Giganten der theologischen Vernunft, insofern fällt Papst Franziskus dagegen kaum auf. Aber auch er handelt und spricht nicht unvernünftig. Und bei jedem, der nicht nur aus dem Gefühl oder einer Ideologie heraus argumentiert, habe ich den „Verdacht“, dass es sich bei ihm mindestens um einen verkappten Libertären handelt.
Eine derartige Einordnung würde der Papst vermutlich weit von sich weisen, aber seine Ansprache an die Mitarbeiter des diplomatischen Korps im Vatikan enthält ein paar Hinweise, die in diese Richtung gehen. Bevor ein in der Wolle gewirkter Libertärer protestiert: Nein, das ist keine libertäre Rede! Zieht man aber aus den Hinweisen des Papstes die richtigen Konsequenzen ist man sehr schnell da. Wenn der Papst also nach geeigneten Lösungen sucht, die die Symptome von Ausgrenzung und Ablehnung kurieren, dann schlägt er eben keine sozialistische Umverteilung vor sondern fordert lediglich zur Lösungsfindung auf. Eine Lösung kann auch in mehr Freiheit bestehen.
Eine dramatische Formulierung findet sich in der Ansprache mehrfach: die der „Auflösung der Gesellschaft“. Es ist kaum zu bestreiten, dass es so etwas gibt wie eine mangelnde Solidarität zwischen den Menschen. Man kann sich als Libertärer streiten, inwieweit es eine Gesellschaft in personalisierter Form überhaupt gibt, aber die Tendenz der Ausgrenzung gibt es ganz offensichtlich. Die Ursache sieht der Papst in einer Ablehnung des Nächsten, die schon Jesus zu seiner Geburt entgegen geschlagen ist: „Und wenn schon der Sohn Gottes so behandelt wurde, wie sehr erst viele unserer Brüder und Schwestern.“
Und weiter:
Es gibt eine Art Ablehnung, die uns gemeinsam ist, die uns dazu leitet, auf den Nächsten nicht wie auf einen Bruder zu schauen, den man annimmt, sondern ihn außerhalb unseres persönlichen Lebenshorizonts zu lassen, aus ihm sogar einen Konkurrenten zu machen, einen zu beherrschenden Untertan. Es handelt sich um eine Mentalität, die jene Wegwerfkultur erzeugt, die nichts und niemanden verschont: von den Lebewesen zu den Menschen und sogar bis zu Gott selbst. Aus ihr geht eine verwundete Menschheit hervor, die ständig von Spannungen und Konflikten aller Art zerrissen wird. […]
So verbindet sich mit einer persönlichen Dimension der Ablehnung unausweichlich eine soziale Dimension, eine Kultur, die den anderen zurückweist, die engsten und echten Beziehungen abbricht und am Ende die ganze Gesellschaft auflöst und sie auseinander brechen lässt und Gewalt und Tod hervorbringt.
Natürlich steckt darin auch eine Art „Wettbewerbskritik“, die allerdings davon ausgeht, dass es der Wettbewerb, oder der Markt ist, der aus dem Menschen nur noch ein Wirtschaftsobjekt macht, einen Konkurrenten, den es auszunutzen oder auszuschalten gilt. Eine solche Überlegung mag es mit einem Blick auf kurzfristigen Erfolg sicher geben, marktwirtschaftlich erfolgreich und damit langfristig sinnvoll ist sie aber – abseits ethischer Betrachtungen – nicht.
Dazu auch folgendes Zitat aus der Ansprache, in dem es um die Ablehnung und Ausgrenzung von Alten und Kranken, Jugendlichen, letztlich sogar der Familie geht:
Außerdem wird nicht selten die Familie selbst zum Gegenstand der Aussonderung, und zwar aufgrund einer immer mehr verbreiteten individualistischen und egoistischen Kultur, welche die Bindungen auflöst und tendenziell dem dramatischen Phänomen des Geburtenrückgangs Vorschub leistet, sowie aufgrund von Gesetzen, die andere Formen des Zusammenlebens privilegieren, anstatt zum Wohl der ganzen Gesellschaft die Familie angemessen zu unterstützen.
Eine der Ursachen dieser Phänomene ist eine gleichmacherische Globalisierung, welche die Kulturen selbst aussondert, indem sie so die ureigenen Faktoren der Identität eines jeden Volkes amputiert. Diese sind aber das unverzichtbare Erbe, das die Grundlage einer gesunden gesellschaftlichen Entwicklung bildet. In einer uniformierten und identitätslosen Welt kann man leicht das Drama und die Mutlosigkeit vieler Menschen wahrnehmen, die buchstäblich den Sinn des Lebens verloren haben. Dieses Drama ist durch die anhaltende Wirtschaftskrise, die Misstrauen hervorbringt und Gesellschaftskonflikte schürt, noch verschärft.
Auch hier meint man einen Widerspruch zum Libertarismus zu erkennen, wenn es der Papst gegen den Individualismus argumentiert. Wenn der Papst sich aber gleichzeitig gegen eine gleichmacherische Globalisierung wendet, dann kann mit dem Individualismus eigentlich nur dessen übersteigerte Form, der Atomismus gemeint sein: Der Mensch als Insel, der für sich alleine kämpft. Das wiederum ist aber nicht die Sicht des Libertären auf den Individualismus, der zwar den Menschen als Einzelnen betrachtet (im Gegensatz zum Kollektivismus), aber dabei dessen Beziehungen mit berücksichtigt.
Gerade der Libertarismus verhindert gleichmacherische Tendenzen, sieht die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Menschen, egal wie leistungsfähig sie sind. Gerade im Libertarismus wird die Familie – insbesondere im Gegensatz zum Staat – als stützende Funktion der Gesellschaft (im Sinne aller Mitglieder einer Region oder Nation) gesehen. Der Staat macht gleich, der Staat ersetzt mit Steuer- und Sozialpolitik die Mechanismen der Rücksicht und Barmherzigkeit durch Verwaltungsakte, lässt uns dann den weniger Leistungsfähigen als Belastung der Gesellschaft sehen. Was wie ein Widerspruch klingt wird so nachvollziehbar: Der Staat löst die Gesellschaft auf!
Nein, der Papst ist kein Libertärer. Aber die Feststellung von objektiven Missständen in der Welt, nicht nur international sondern auch in einzelnen Nationen, ist richtig und auch die Ursachenanalyse – das Anprangern der Ablehnungen und Ausgrenzungen in der Gesellschaft – ist aus christlicher Sicht stringent. Dass der Papst die Lösung nicht in persönlicher und wirtschaftlicher Freiheit sieht sondern eher in staatlichen und überstaatlichen Regulierungen, ist leider ein „common sense“, dem er folgt. Die Argumente für mehr Freiheit und mehr Markt liegen mit seinen Analysen aber auf der Straße – wir müssen sie nur aufgreifen und die wahren Ursachen und Lösungen anbieten. Und dass zu tun ist auch eine gesellschaftliche Verantwortung, wollen wir die Gesellschaft – im Sinne einer rücksichtnehmenden und annehmenden Gemeinschaft – nicht der weiteren Auflösung preisgeben.
Vollständig lässt sich die Ansprache des Papstes hier nachlesen: ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS BEIM NEUJAHRSEMPFANG FÜR DIE MITGLIEDER DES BEIM HEILIGEN STUHL AKKREDITIERTEN DIPLOMATISCHEN KORPS
Túrin Turambar
Frisch auf,
Manchmal frage ich mich, wie präsent die Idee der katholischen Soziallehre noch in der Kirche ist, wobei ich gar nicht weiß, wie sehr sie es je außerhalb des deutschsprachigen Raumes war.
Würden Sie die katholische Soziallehre als libertär einordnen? Ich habe mir noch nicht die Muße gegönnt mich durch die Texte selbst zu arbeiten, und bin nur aus dem Religionsunterricht heraus informiert. Wäre sie kompatibel mit der Österreichischen Schule?
Grüßle
Túrin
Papsttreuer
Lieber Túrin,
wenn es unter uns bleibt ;-) … ich weiß es selbst nicht und habe mich bislang nur bruchstückhaft damit auseinandergesetzt. Nach dem, was ich ansonsten insbesondere von deutschsprachigen Autoren höre, würde ich annehmen, dass die katholische Soziallehre nicht als libertär eingeordnet wird. Immer wieder im Gespräch sind die sogenannten Grundprinzipien Personalität, Subsidiarität, Solidarität und Gemeinwohl. Erstere beiden passen sehr gut in ein libertäres Weltbild, bei den letzteren beiden käme es auf die Ausgestaltung an, zuvorderst die Frage: Freiwilligkeit oder Zwang? Ich nehme den Kommentar aber gerne als Aufhänger, mich damit näher zu beschäftigen, auch wenn ich fürchte, auf Dinge zu stoßen, die mir nicht gefallen.
Gottes Segen!