Gibt es eine deutsche Leitkultur? Wer kann sie beschreiben? Und wer hat die Kompetenz, sie festzulegen oder gar zu ändern? Fragen, die offen bleiben.
Gehört ein selbst gebastelter Galgen für Politiker – auch wenn er „nur“ symbolisch gemeint ist – zur politischen Kultur unseres Landes? Ist ein solches Symbol legitimes Mittel zur Propagierung christlich-abendländischer Kultur? Ist eine blutverschmierte Guillotine eine legitime politische Botschaft an die Mächtigen im Land, dass man mit ihrer Politik nicht einverstanden ist? Ich will hier gar nicht vertieft über Rechtschreibfehler bei der Benennung der Politiker („Siegmar“) oder in der Botschaft („Pass blos auf“) nachdenken, auch nicht darüber, ob so etwas strafbar sein sollte. Aber wer meint, sich für nationale und Gesellschaftskultur einzusetzen, egal aus welcher politischen Richtung, sollte schon noch auf so etwas wie einen Mindeststandard an Kultur setzen.
Dazu gehören das Herumtragen von Galgen und Guillotinen sicher nicht, weshalb sich einerseits die Frage stellt, was Demonstrationsteilnehmer umtreibt, die so etwas mit sich schleppen. Andererseits stellt sich aber auch mal wieder die Frage, was das denn eigentlich ist, die deutsche Leitkultur. Manche meinen, mit dem Wort „Grundgesetz“ sei eine ausreichende Antwort gefunden, aber eine ganze Kultur in die Form eines – am Ende zwar wesentlichen aber doch – Verwaltungstextes gepackt zu sehen? Manche trauen das den Deutschen zu, das wäre aber wohl eher eine Karikatur.
CDU-Generelsekretär hat in einem Beitrag in der Welt dazu einen Diskussionsbeitrag geliefert. Als ich den auf Facebook geteilt habe, erhielt ich auch Kommentare hinsichtlich der Geringschätzung der Person Taubers. Nun bin ich bei Parteigeneralsekretären schon seit weiland Heiner Geißler in der CDU immer skeptisch, und das wird bei Tauber für die CDU und Fahimi für die SPD sicher nicht sein Ende nehmen. Aber inhaltlich bemerkenswert ist sein Beitrag schon.
Hier dazu die wesentlichen Abschnitte:
Unser Grundgesetz ist die Basis dieses Leitbildes, aber dazu gehört mehr. Die Bereitschaft, sich ehrenamtlich zu engagieren; die Idee, dass jeder, der fleißig ist und sich anstrengt, den sozialen Aufstieg schaffen kann; dass Religionsfreiheit heißt, Religion wechseln zu dürfen; dass Gleichberechtigung bedeutet, dass zunehmend Frauen den Ton angeben, und Toleranz und Gleichstellung, dass sich zwei Männer auf der Straße selbstverständlich küssen; dass Familien mit vielen Kindern Unterstützung von allen erfahren und nicht als asozial beschimpft werden; auch Stolz auf Deutschland, das Mitsingen unserer Nationalhymne und gemeinsame Freude – nicht nur beim Fußball, sondern gerne auch etwas lauter und fröhlicher an unserem Nationalfeiertag: All das steht so nicht im Grundgesetz, aber wäre aus meiner Sicht ein schöner und wichtiger Bestandteil eines neuen deutschen Leitbildes.
Die Menschen, die hier bleiben, sollten Schwarz-Rot-Gold als ihre Farben lieben lernen. Dazu gehört dann auch, dass wir uns fragen, wie wir über unser Land sprechen. Denn wenn wir nicht begeistert von Deutschland sind, wie sollten wir dann andere dafür begeistern? Und wir können doch wahrlich stolz auf unser Vaterland sein – ein Land, das mit allen Nachbarn in Frieden und Freundschaft lebt, das frei, demokratisch und offen ist, das für viele Menschen aus anderen Regionen ein Sehnsuchtsland ist.
Wir müssen denen, die bleiben, aber auch prägende Momente unserer Geschichte erklären: Wer in Deutschland aufgewachsen und zur Schule gegangen ist weiß, warum wir eine besondere Verantwortung für die Sicherheit Israels haben, warum wir dankbar und glücklich sind, dass es wieder lebendige jüdische Gemeinden bei uns gibt. Wer Antisemitismus lebt, der stellt sich außerhalb der Gesellschaft. […]
Im Übrigen: Ein gesellschaftliches Leitbild gilt auch für die, die bereits hier leben – Deutsche wie Einwanderer. Die Diskussion darüber wird nie zu Ende sein. Jede Generation muss klären, welche Werte zu einem solchen Leitbild gehören. Der CDU kommt bei dieser Diskussion über das Verbindende in der Gesellschaft eine Schlüsselrolle zu. Denn wir haben die Brücke schon im Namen – das „U“ für Union, das Gegensätze überwinden will. Wir müssen der Motor in der Debatte sein, die nun wieder einmal dringend notwendig ist.
Bemerkenswert an den genannten Themen ist für mich vor allem, dass ich nicht glaube, dass sie in Deutschland flächendeckend konsensfähig sind: Laut und fröhlich die Nationalhymne an unserem Nationalfeiertag singen? Da beißen sich nicht wenige eher die Zunge ab, bevor das passiert. Auf der anderen Seite ist man in weiten Teilen der Bevölkerung weit entfernt von einer „Selbstverständlichkeit“ sich küssender Männer (und das nicht nur in kirchlichen Kreisen). Und Stolz auf unser Vaterland – das garantiert Widerspruch von links wie von rechts, mit jeweils unterschiedlicher Begründung.
Will man aber so etwas wie eine Leitkultur definieren, an der sich auch in zigter Generation Deutsche orientieren sollen, wird man nicht umhin kommen, Widersprüche auszuhalten, sie einer Diskussion und wo möglich einem Kompromiss zuzuführen, und sich Gedanken darüber zu machen, was es bedeutet, wenn jemand einzelne Teile eines solchen Leitbildes nicht akzeptieren mag. Wäre dann ein Antisemit automatisch kein richtiger Deutscher mehr? Und jemand, der bei einem Sieg der deutschen Nationalmannschaft nicht mitjubeln mag? Trägt ein „verabschiedetes“ Leitbild nicht mindestens das Risiko eine nicht adäquaten Kollektivismus in sich? Ich würde letzteres jedenfalls argwöhnen, selbst wenn ich keine Berührungsängste bei dem Begriff Vaterland habe.
Wer jetzt erwartet, einen Vorschlag für ein deutsches Leitbild oder eine formulierte Leitkultur vorzufinden, der wird enttäuscht werden – so etwas kann ich genau so wenig liefern, wie es Peter Tauber in seinem Beitrag hat liefern können. Ich würde vermutlich andere Akzente setzen: Dass der Generalsekretär der CDU auf den Gedanken kommt, bei der Beschreibung der Entwicklung einer Leitkultur ausgerechnet das „U“ im Namen seiner Partei herauszustellen und das „C“ nur bei der Frage von Weihnachtsmärkten und verkaufsoffenen Sonntagen vorkommt, macht mich skeptisch. Aber machen wir uns andererseits nichts vor: Das „C“ gehört für viele Deutsche nicht mehr zwingend zur deutschen Leitkultur, es wird Teil von Diskussionen und Kompromissen werden müssen, auch wenn man sich als Christ etwas anderes wünschen würde.
Bleibt also am Ende doch nur die Negativabgrenzung? Hass gehört nicht zum deutschen Wesen, sinnlose Gewalt auch nicht? Was noch nicht? Und gibt es eine zivilisierte Nation auf der Welt, auf die eine solche Negativabgrenzung nicht zuträfe? Und sind Negativabgrenzungen überhaupt trennscharf genug? Galgen und Guillotinen gehören nicht zur deutschen Leitkultur, nicht mal auf Demonstrationen … aber Blockaden von Demonstrationen? Tendenziöse Berichterstattung gehört nicht zur deutschen Leitkultur … aber wird dieser Anspruch wenigstens durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk überhaupt eingelöst? Diskriminierung gehört nicht zur deutschen Leitkultur … aber wie sieht es mit gesellschaftlichen oder religiösen Minderheitenmeinungen aus?
Nein, ich habe keinen Vorschlag für ein deutsches Leitbild, das sich nicht ebenso auseinandernehmen ließe wie das von Peter Tauber. Ich habe Vorstellungen davon, wie in Deutschland ein politischer Meinungsbildungsprozess ablaufen sollte. Ich habe Vorstellungen davon, wie man miteinander umgehen sollte, gerade auch mit abweichenden Meinungen. Ich habe auch eine Vorstellung davon, wie Politik in Deutschland generell aufgestellt sein sollte – vor allem, wo ich mir wünschen würde, dass sie sich besser heraushält. Diese Vorstellungen versuche ich – wie jeder andere – deutlich zu machen, in den Ring der Diskussionen zu werfen und mache Werbung dafür. Und bis zu einem gewissen Grad bin ich dabei zu Kompromissen bereit, kann manches tolerieren, weniger schon akzeptieren, aber mit dem meisten irgendwie leben.
All das sind meine Vorstellungen, ich sehe sie in den allermeisten Themen in Deutschland als gegeben an, weshalb ich gerne Deutscher bin, so gesehen auch stolz, Deutscher zu sein. Eine Defintion deutscher Leitkultur hat in dieser Hinsicht auch ein Risiko: Über die Beobachtung und Dokumentation besteht die Gefahr, eine politisch gewünschte gesellschaftliche Änderung einfließen zu lassen, die gar nicht mit der Realität übereinstimmt – was dazu führen kann, dass „die Deutschen“ sich zu einem Großteil durch eine solche Kultur nicht repräsentiert fühlen. Diesen Realitätsbezug, gepaart mit Idealvorstellungen der Einzelnen, muss man bei der Diskussion um die Leitkultur beachten, will man nicht ein pseudodemokratisches Monster entwickeln, an das sich die in unserem Land lebenden Menschen zu assimilieren haben. Gerade weil es jetzt auch Linke und Grüne sind, die sich für das Thema Leitkultur erwärmen können, bin ich skeptisch, ob die Diskussion in die – selbstredend nach meinen Vorstellungen – richtige Richtung entwickelt. Eigentlich muss ich allgemeiner formulieren: Kann es überhaupt die Aufgabe der Politik sein, ein solches Leitbild zu formulieren? Parteien wirken an der politischen und damit gesellschaftlichen Willensbildung mit, sie definieren sie aber nicht.
Wissen Sie was: Ich finde kein rundes Ende für meinen Beitrag, er hat keine finale Botschaft. Vielleicht lasse ich ihn damit auch einfach enden. Ein offenes Ende also, sinnbildlich für eine bislang offengebliebene Diskussion.