Ob es wohl auf der Welt jemanden gibt, der die Worte der Bibel, oder sagen wir zumindest die Worte Jesu ganz verstanden hat? Ich bemühe mich, wie es vermutlich jeder Christ, der etwas auf sich hält, tun wird, versuche mich in Demut, wenn sich mir der Prolog des Johannesevangeliums oder dessen Offenbarung nicht ganz erschließt aber zumindest die Originalworte Jesu müssten doch klar sein. Und ja, sie sind es auch, aber ab und an überkommt einen dann der Gedanke wie hat er das wohl gemeint. Vor allem dann, wenn man das Gefühl hat, man würde einen (vermeintlichen) Widerspruch entdecken.
Nehmen wir das Tagesevangelium von heute, Matthäus 9, 9-13. Die Geschichte ist an sich bekannt: Jesus kehrt beim Zöllner Matthäus ein, zusammen mit anderen Zöllnern und Sündern, den Parias der damaligen israelischen Gesellschaft. Und was zu erwarten war passiert: die Pharisäer, das religiöse Establishment der damaligten Zeit, erregen sich über diesen Tabubruch mit der Frage an Jesu Jünger: Wie kann euer Meister zusammen mit Zöllnern und Sündern essen? Darauf antwortet Jesus, der das natürlich mitbekommen hat mit den Worten:
Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Darum lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. Denn ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.
Zunächst mal ist das so eine der Wohlfühlstellen im Evangelium: den Leser nerven die Pharisäer schon länger mit ihrem ewigen Genörgele an Jesus (und jeder Christ weiß auch im Vorgriff wie die Geschichte ausgehen wird), und hier stellen sie erneut Jesus Entscheidungen in Frage. Da tut es gut zu hören, wie ihnen der Kopf gewaschen wird. Ist doch auch wahr: Jesus ist gekommen, um uns Sünder zu retten, und es fällt uns leicht uns zumindest in dieser Situation mit den Zöllnern und anderen Sündern zu identifizieren. Okay, wir sind hoffentlich keine korrupten Beamten oder Diebe, keine Ehebrecher oder Prostituierten oder , aber tief in jedem Christen ist auch das Bewusstsein dafür da, dass wir auch nicht so sind, wie Gott uns bei der Schöpfung gedacht hat. Zumindest den Hang zur Sünde spüren wir immer, und zu oft geben wir der Versuchung nach und sind auf die Gnade und Barmherzigkeit Gottes angewiesen, der uns aus dem Schlamassel immer und immer wieder herausführt. So nehmen wir an, wenn wir damals gelebt hätten, dann wäre Jesus auch unseretwegen gekommen, wäre in unser Haus eingekehrt, in das Haus eines Sünders.
Den Pharisäern von damals, die uns argwöhnisch betrachten und sich für was Besseres halten, denen hätten wir zu gerne mal unsere Meinung gesagt, aber das hätte unsere Außenseiterposition vermutlich nur noch mehr vertieft. Da tut es gut, wenn Jesus, den wir zu dem Zeitpunkt nur als Befreier und Revolutionär kennengelernt haben, für uns Stellung bezieht, nicht verschweigt, dass wir Sünder sind aber deutlich macht: Für Euch bin ich gekommen, die Sünder, die in der Seele Kranken. Ich bin barmherzig und auch ihr sollt barmherzig sein, wie ich es bin. Euch Sünder bin ich gekommen, zur Umkehr zu rufen. Großartig müssen Matthäus und seine anderen Gäste sich gefühlt haben: da ist einer, der uns versteht, der spürt, dass die Sünde an uns nagt, sie uns nicht egal ist, auch wenn wir noch so lange versuchen, unser Gewissen zu betäuben mit Geld, Wein, Lust Dagegen die Pharisäer, die glauben, sie wären ohne Sünde, die meinen, es sei ausreichend die jüdischen Gesetzesregeln einzuhalten und auf uns, die wir sie nicht halten, herabschauen die kriegen von Jesus mal so richtig die Meinung gegeigt. Ähnliche Stellen gibt es ja auch sonst im Evangelium: bei keinem anderen Menschen wird Jesus so zornig wie bei den Pharisäern und Schriftgelehrten, man lese nur Matthäus 23, wo er sie als Heuchler, als blinde Führer, als blinde Narren, zuletzt als Nattern und Schlangenbrut (wobei mir die alte Formulierung Otterngezücht noch besser gefällt, klingt irgendwie dramatischer) beschimpft. Wenn man diesen Abschnitt liest so geht es mir jedenfalls muss ich an Action-Krimis denken, bei denen am Schluss der fiese Bösewicht so richtig (ich bitte die Formulierung zu entschuldigen) auf die Fresse kriegt. Gewalt ist nicht unser Weg, und dennoch fühlt man sich irgendwie gut, wenn man die Gerechtigkeit siegen sieht. Und genau so haben es die Pharisäer doch verdient, dass ihnen Jesus den Spiegel vorhält und sie in den Senkel stellt. Man merkt der Evangeliumsstelle (ich empfehle sie mal mit ein bisschen Emotion zu lesen, vielleicht sich vorzustellen, wie Jesus die Worte mit wachsender Dramatik gesprochen hat, besser noch sie einmal laut und lauter werdend aufzusagen) an, wie zornig Jesus hier ist und ihnen mit seinen Worten unbarmherzig den Prozess macht
Oder halt! Habe ich mich da vergallopiert? Ist das der Prozess, der den Pharisäern gemacht wird? Werden sie von Jesus verurteilt? Es gibt doch noch das Jüngste Gericht, bis dahin könnten sie doch noch umkehren und den Himmel erreichen? Und überhaupt, wenn die Pharisäer so sind, wie sie hier beschrieben werden müsste Jesus dann nicht statt bei einem harmlosen Zöllner besser bei einem solchen religiösen Agitator einkehren? Wenn mal jemand krank ist, dann doch diese Eiferer! Wenn jemand auf Barmherzigkeit angewiesen ist, dann doch dieses Establishment, das sich über andere erhebt! Wenn jemand als Sünder von Jesus gerufen werden sollte, dann doch sie, die über andere urteilen, Sünder zu sein! Vielleicht greift Jesus sie nicht aus Zorn an, sondern weil er bei ihnen drastische Worte benötigt. Das eine Kind wird durch die sanften Worte Lass das bitte von einem gefährlichen Spiel mit dem Feuer abgehalten, das andere braucht eine richtige Ansage bei beiden wollen wir doch aber nur das beste für sie, sie vor Schaden bewahren. Und die Pharisäer sind eben richtig festgefahren, brauchen drastische Worte, Worte, die sie aus ihrer Selbstgefälligkeit aufwecken. Wenn Gott die Liebe ist, dann ist in seinen Worten gegen die Pharisäer kein Hass, dann ist es Liebe, die ihn umtreibt, sie so anzugehen. Jesus ist also gekommen, auch die Pharisäer zur Umkehr zu rufen, die genau so krank in der Seele sind wie die Zöllner, das aber nicht wissen; sie zu heilen, ihnen am Ende auch barmherzig entgegen zu kommen wenn sie diese Gnade nur annehmen wollen!
Und wenn das so ist, wie steht es dann um mich und meine obigen Gedankengänge gegen die Pharisäer, dieses Otterngezücht, denen ich gönne, dass Jesus sie mal so richtig an den Pranger stellt? Wir haben die Rollen getauscht, die Pharisäer und ich, Jesus ruft sie zur Umkehr und ich frage mich, wieso er das tut, er müsste doch wissen, was das für Leute sind und ich kann nur hoffen, dass der Herr meiner armen Seele gnädig ist!