Zunächst mal muss ich zugeben, dass ich das wissen die meisten meiner Leser kein Theologe bin und außerdem auch nur eingeschränkte Kenntnisse über die Glaubenskerne evangelischer Glaubensgemeinschaften habe. So kann es sein, dass ich einem Irrtum aufsitze, wenn ich die Sola-Ansätze Luthers zu sehr in meine eigene Denkrichtung interpretiere: Sola gratia allein durch die Gnade (Gottes erlangt der Mensch Heil bzw. das ewige Leben), Sola fide allein der Glaube (verheißt dem Menschen ewiges Leben), und Sola scriptura allein die Schrift (also die Bibel vermittelt die Heilsbotschaft und bedarf keiner weiteren Ergänzung durch weitere kirchliche Überlieferung).
Gerade auch letzterer Punkt ist immer auch Streitpunkt zwischen der katholischen Kirche und den evangelischen Glaubensüberzeugungen; erstere sieht die Offenbarungen Gottes eben nicht durch die Bibel beendet sondern sieht Überlieferungen und kirchliches Lehramt ebenfalls als Quellen der Heilsbotschaft. Für mich als Katholiken ist das wesentlich und ergibt sich das ist vielleicht laienhaft aus dem Wirken des Heiligen Geistes in der Welt und in seiner Kirche. Andererseits wäre ich mit evangelischen Christen einig, legte man fest, dass Überlieferungen und kirchliche Lehren der Heiligen Schrift nicht widersprechen sollte sondern im Gegenteil ihre Wurzeln in der Bibel finden muss. Das setzt nun wieder bei der Interpretation moderner Entwicklungen, die in der Bibel keine eindeutige Entsprechung haben, eine entsprechende Exegese voraus: wer eine Volltextsuche über die Bibel mit dem Begriff Embryonenforschung laufen lässt, wird nicht fündig, muss sich also auf andere Aussagen bezüglich des Lebens und der Schöpfung verlassen und gestützt durch den Heiligen Geist entsprechende Aussagen übertragen.
Die Argumentationsrichtung ist dabei aber entscheidend: von der Bibel auf die moderne Welt zu schließen, nicht von der modernen Welt aus gesehen die Bibel zu interpretieren! Im letzteren Fall läuft man Gefahr, in dem Ansinnen, sie im Lichte der heutigen Welt zu interpretieren, sie tatsächlich an die heutige Welt anzupassen. Ein schönes Beispiel für eine Umkehrung der Argumentation ist das Positionspapier des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zur Familie Zwischen Autonomie und Angewiesenheit – Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken – Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Das Dokument ist immerhin 162 Seiten stark und ich kann nicht von mir behaupten, ich hätte es komplett durchgelesen. Das ich es nicht getan habe liegt schon im Vorwort begründet, in der der Vorsitzende der EKD, Nikolaus Schneider schreibt: Ich hoffe, dass diese Veröffentlichung der EKD in Kirche und Gesellschaft zu Diskussionen und zum Weiterdenken einlädt. ein Ansatz den ich für eine Orientierungshilfe für vollständig verfehlt halte. Nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, dass Menschen, ob Christen oder anders- oder nichtgläubige auf der Suche nach Antworten sind, und ihnen stattdessen Diskussionskärtchen zur Verfügung zu stellen, das ist so meine persönliche Sicht das genaue Gegenteil, was die Welt von der Kirche erwarten darf. Und wie als Beweis, dass die EKD diesen Anspruch nicht erfüllt weil sie ihn nicht erfüllen kann, schwadroniert (die Wortwahl nutze ich bewusst in diesem Zusammenhang, das soll keine Polemik werden): Denn Familie geht längst nicht mehr nur Frauen und Kinder an. Familie zu gestalten ist auch eine Aufgabe für Männer und betrifft alle Generationen und Lebensbereiche. Ich möchte beim Lesen dieser Worte aus der Haut fahren: wenn das eine Erkenntnis der EKD ist, etwas, was bereits mehrere Generationen von Familien beherzigt haben, dann kann ich nur sagen: Guten Morgen lieber Herr Schneider (okay, das war jetzt polemisch)!
Wer sich vom Vorwort und seinen Unverbindlichkeiten und verquasten Formulierungen (Die evangelische Kirche mit ihrer Diakonie und ihrer Bildungsarbeit kann und soll ein tragfähiger Knoten in einem solchen Netzwerk sein.) noch nicht hat abschrecken lassen, der sieht sich mit erstaunt offenem Mund die ersten Worte des eigentlichen Dokuments gegenüberstehen:
Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Bereits in den ersten Kapiteln der Bibel wird deutlich, dass Menschen zur Gemeinschaft bestimmt und auf Liebe, Fürsorge, Erziehung und Pflege angewiesen sind.
Der Text bezieht sich auf die zweite Schöpfungsbeschreibung in Genesis 2, 18. Gott hatte den Menschen als Mann geschaffen und stellt ihm nun nacheinander Tiere zur Seite, die ihm helfen sollen (Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht.) Nur findet der Mann eben unter den Tieren genau diese Hilfe, die ihm entspricht nicht. Darum formt Gott aus der Rippe des Mannes die Frau, die der Mann als solche erkennt (Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heißen, denn vom Mann ist sie genommen.) Und final in diesem Absatz schreibt der Autor des Textes:
Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau und sie werden ein Fleisch.
Wer nun meint, an dieser Stelle einen Einstieg in das Eheverständnis der EKD zu finden der täuscht sich! Tatsächlich wird auf die der Stelle Genesis 2, 18 folgenden Zeilen noch mal eingegangen, allerdings ganz anders als man meinen könnte:
Auch die Texte der Schöpfungsgeschichte erzählen davon, dass jeder Mensch Familie hat und somit nach Gottes Willen in eine gemeinschaftliche Lebensgestalt hineingeboren wird. Zugleich erinnern sie daran, dass der Mensch auf ein Gegenüber angewiesen ist, wie es in neueren Übersetzungen heißt, auf »eine Hilfe, die ihm gleich sei«, einen Menschen auf Augenhöhe, der spannungsreich anders, aber doch ebenbürtig ist. Im Glück sexueller Begegnung »erkennen« Menschen im Partner oder der Partnerin den anderen wie sich selbst, in der körperlichen Hingabe erleben wir ganz unmittelbar Verschmelzung und Angewiesensein; der andere ist »Fleisch von meinem Fleisch«, wie es im Schöpfungsbericht heißt. Das Angewiesensein auf andere macht uns also gerade nicht unfrei, sondern setzt erst viel von dem frei, was unsere Person ausmacht.
Das alles ist ja nicht falsch, aber eben nicht das, was die Schöpfungsgeschichte als Ehe, Familie, Verhältnis von Mann und Frau der Schöpfungsordnung gemäß beschreibt. Und das hat seinen Grund, der ein paar Seiten vorher beschrieben steht, und einem Protestanten eigentlich doch einen Hustenanfall bereiten müsste:
Die Bibel erzählt von der Kindersegnung Jesu und der Sorge von Eltern, die sich bei Jesus um eine Zukunft für ihre kranken Kinder einsetzen, aber auch von der Macht der Väter und dem Gehorsam, den Familien den Frauen wie den Söhnen und Töchtern abverlangten. Wer sie liest, entdeckt große Familien- und Liebesgeschichten, die nicht nur die Weltliteratur, sondern auch unser Verständnis vom Miteinander in Familien prägten. Sie zeugen aber auch von kulturellen Traditionen, gesellschaftlichen Zwängen und einem überholten Rollenverständnis.
(Hervorhebung durch mich)
Da ist sie, die Umkehrung der Beweislast, die Bibel muss sich der modernen Welt stellen, sonst sind ihre Aussagen überholt! Ich möchte an dieser Stelle nicht missverstanden werden, es geht mir nicht darum alte Rollenmodelle wieder aufleben zu lassen, in der die Frauen zu Hause bleiben müssen und der Mann arbeiten geht, Frauen keine Rechte haben und vollständig von ihrem Mann abhängig sind. Nur: moderne Bilder von Familien, die nurmehr die gegenseitige Verantwortlichkeit in den Vordergrund rücken, lassen sich biblisch zumindest nicht begründen. Auch der Versuch, dies doch zu tun, zum Beispiel mit den Worten …
Heute wissen wir: Ein Verständnis der bürgerlichen Ehe als »göttliche Stiftung« und der vorfindlichen Geschlechter-Hierarchie als Schöpfungsordnung entspricht weder der Breite biblischer Tradition noch dem befreienden Handeln Jesu, wie es die Evangelien zeigen.
bleibt den biblischen Nachweis schuldig. Im Gegenteil müsste man sagen: wenn Jesus der Tabubrecher war, auf den ihn manche reduzieren wollen, warum sollte er dann an dieser Stelle gekniffen haben? Problematiken wie Ehebruch, Scheidung, auch Homosexualität waren zu seiner Zeit ja nicht unbekannt und dennoch hat er sich dazu nicht einschränkend geäußert sondern im Gegenteil alttestamentarische Regelungen zur Ehe sogar noch geschärft. Selbst dies wird von der EKD aber in überraschender Richtung interpretiert:
Das Scheidungsverbot Jesu erinnert die Paare und Eltern an ihre Verantwortlichkeit und macht Kirche und Gesellschaft deutlich, dass Verlässlichkeit für jede Gemeinschaft konstitutiv sind, weil sie die Schwächeren schützen und damit erst den Spielraum für Freiheit und Entwicklung eröffnen.
Was hier versucht wird, ist das Scheidungsverbot inkl. den Aussagen Jesu zum Ehebruch zu reduzieren auf einem Appell und das im Namen des Zeitgeistes, der heute dies weiß und morgen das. Nicht wenige Zeitgenossen, auch Christen, fühlen sich an die Aussagen Jesu nicht oder nicht mehr gebunden, wenn diese Loslösung aber von einer Gemeinschaft propagiert wird, die sich selbst als Kirche begreift ist Gefahr im Verzug, weil exakt der eingangs erwähnte Konflikt auftritt: Nicht mehr der Mensch, nicht der Geist der Zeit orientiert sich an der Bibel, sondern Bibel bzw. Bibelauslegung soll sich am Zeitgeist orientieren. Diese Vermengung von Zeitgeist und Heiligem Geist, die darin zum Ausdruck kommt, sie hat aber das mag beruhigen, weil es einiges erklärt, oder beunruhigen, weil sie in dieser Form in einer Kirche auftritt und in einem kirchlichen Dokument niedergelegt ist, an der sich Menschen zu recht orientieren wollen eine Entsprechung in der Bibel, im 2. Brief des Apostels Paulus an Timotheus 4, 3ff.:
Denn es wird eine Zeit kommen, in der man die gesunde Lehre nicht erträgt, sondern sich nach eigenen Wünschen immer neue Lehrer sucht, die den Ohren schmeicheln; und man wird der Wahrheit nicht mehr Gehör schenken, sondern sich Fabeleien zuwenden.
Und wie lautet der Auftrag des Apostels angesichts dieser Entwicklung an seinen Schüler, wie hat er sich selbst verhalten?
Du aber sei in allem nüchtern, ertrage das Leiden, verkünde das Evangelium, erfülle treu deinen Dienst! Denn ich werde nunmehr geopfert, und die Zeit meines Aufbruchs ist nahe. Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, die Treue gehalten.
Der Vorwurf, der in dieser kleinen Analyse zum Ausdruck kommt ist immens, und er spiegelt sich auch wieder in den Vorwürfen freikirchlicher und evangelikaler Gemeinschaften, die das Papier der EKD scharf kritisieren: trotz ihres eigenen Grundsatzes des sola scriptura verwässert die EKD die Kernaussagen der Bibel, verwässert den Glauben, wendet sich Lehren zu, die einfacher zu vermitteln sind, weil sie den Ohren derjenigen schmeicheln, die eigentlich zur Umkehr aufgerufen werden sollten.
Es geht daneben auch um nicht weniger, als das die evangelische Kirche ihren Grundsatz des sola scriptura verlässt zugunsten einer zeitgeistorientierten Wohlfühltheologie und damit an Verlässlichkeit sowohl gegenüber den eigenen Gläubigen wie auch im Rahmen der Ökumene einbüßt.
Die Sorgen des Familienbischofs der katholischen Kirche in Deutschland, Franz-Peter Tebartz-van Elst, die er im Domradio-Interview erläutert, sind daher gar nicht zu gering einzuschätzen:
Als Sakrament ist die Liebe und Treue der Ehepartner Zeichen für die dauerhafte Liebe und Treue Gottes zu uns Menschen. Auch die Offenheit für Nachkommenschaft, die Möglichkeit, Kindern das Leben zu schenken, ist nun einmal etwas Wesenhaftes für christliche Ehe und Familie. Darin erleben Ehen und Familien einen Zugewinn, sie erfahren Verbundenheit, Verlässlichkeit und vorbehaltlose Solidarität. Auf alle diese Aspekte können wir von unserer Glaubensüberzeugung her nicht verzichten. Ich sehe es als eine Aufgabe der Katholischen Kirche, diese Überzeugungen immer wieder zu begründen, damit sie nachvollziehbar und verständlich werden, auch durch überzeigende Beispiele und Zeugnisse gelingender christlicher Ehe und Familie. [ ]
Wo Menschen in Notsituationen, bei Krankheit oder anderen Situationen der Schwäche Verantwortung füreinander übernehmen, stellt das einen ganz hohen Wert dar, der nicht in Abrede gestellt werden darf. Dabei darf es jedoch nicht zu einer Verwechslung mit dem kommen, was wir als das Ursprüngliche, Eigene und Wesentliche von Ehe und Familie verstehen. Treue hat immer einen hohen Wert, dennoch ist uns als Katholischer Kirche wichtig, dass es dabei nicht zur Verwechslung mit einer Ehe in ihrer sakramentalen Bedeutung kommt. [ ]
Sorge bereitet mir zu sehen, wie wir schon vor Jahren, z.B. bei bioethischen Herausforderungen, nicht mehr zu gemeinsamen Standpunkten gelangt sind. Wir kommen offenbar bei essentiellen Fragen, zu denen das Zeugnis von Christen in unserer Gesellschaft gefragt ist, immer weniger zusammen. Ich halte es für wichtig, dass wir im Gespräch darüber sind, aber würde mir wünschen, dass wir auch inhaltlichen näher zusammenkämen. Gerade der biblisch bezeugte Wert von lebenslanger Treue in Ehe und Familie müsste doch eine höhere Wertschätzung erfahren.
Das sind in der Formulierung moderate und in der Sache doch klare Worte des Bischofs und man kann nur hoffen, dass diese Position auch von den anderen Bischöfen mitgetragen wird. Die Orientierungshilfe der EKD ist jedenfalls für die Glaubenssicherheit der Christen genau so wie für die Ökumene in Deutschland (um mal einen Begriff unserer Kanzlerin zu verwenden) nicht hilfreich. Ob es zu viel Optimismus ist, wenn man sich wünscht, dass die EKD dieses Papier als Fehler wieder einstampft?!
Gast
je ne regrette rien!
Ich bin so froh, dass ich 2006 katholisch geworden bin…. Und ein Grund (von vielen) war unter anderem, die damals schon schwammige Haltung der evangelischen Kirche zum Beispiel zu bioethischen Fragen oder Abtreibung (im evangelischen Katechismus nachzu lesen).