Es ist so kurz vor der Wahl zum Verrücktwerden. Ich gehöre zu denen, die das Wahlrecht in Deutschland auch als Pflicht verstehen, sich am demokratischen Prozess zu beteiligen. Und das mit allen Einschränkungen: die Demokratie erscheint mir als die unter gegebenen Umständen bislang noch beste Staatsform, die aber die Tendenz erstens zur Diktatur des Pöbels und damit zur Selbstneutralisierung beinhaltet. Der Wettkampf der guten Ideen findet heute kaum noch statt. Man stelle sich vor, eine Partei propagiere heute aufgrund der desaströsen Schuldensituation Deutschlands einen harten Einschnitt in Sozialleistungen und Subventionen? Vielleicht bekäme man ein paar Prozent, aber nie und nimmer in Regierungsverantwortung. Verspricht man den Menschen dagegen das Blaue vom Himmel, auch auf Kosten der Nachfolgegenerationen, kann man mit zweistelligen Wahlergebnissen rechnen. Es gewinnt nicht das beste Konzept sondern das mit den meisten Stimmen: Vox populi, vox Rindvieh sagte mein alter Lateinlehrer zu so was.
Wie auch immer, deshalb nicht zur Wahl zu gehen ist für mich keine Alternative. Dann ist aber die Frage: wie setze ich denn meine Stimme bei der Wahl ein?
Als Libertärer müsste ich eigentlich die Partei der Vernunft (pdv) wählen, was nicht in jedem Bundesland aber doch in Nordrheinwestfalen möglich sein wird. Das Problem dabei: eine Partei wie die pdv hat in einigen Fragestellungen noch keine parteininterne Meinung. So habe ich auf Nachfrage von denen zum Thema Abtreibung schon unterschiedlich Aussagen gehört, vom Recht des Embryos auf Leben wie es jedem anderen Menschen auch zusteht bis hin zur Selbstbestimmung der Frau und dem fehlenden Recht des Kindes auf Geburt zu Lasten seiner Mutter. Mir scheint aus libertärer Sicht die erste Einstellung nachvollziehbarer (aus christlicher selbstverständlich sowieso), eine Parteilinie scheint es aber dazu noch nicht zu geben. Sollte ich also Gefahr laufen, mit der pdv eine irgendwann im Kern antichristliche Partei zu wählen, müsste ich ihr meine Stimme versagen. Andererseits müsste die pdv in den Bundesländern in denen sie antritt ca. 8 % der Stimmen erreichen um bundesweit über die 5%-Hürde zu kommen; das wird sie nicht schaffen, aber ein kleiner Achtungserfolg für libertäre Wirtschaftspolitik wäre doch ein guter Grund, dieses Thema mal in aller Breite gesellschaftlich zu diskutieren.
Als katholischer Christ müsste ich mich wohl auf christliche Kleinparteien wie die Partei bibeltreuer Christen, fokussieren. Sie treffen in aller Regel was Lebensrecht und grundsätzliches Menschenbild angeht, meinen Nerv. Bislang habe ich aber noch keine derart orientierte Partei gefunden, bei der ich nicht mit Blick auf ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen (wenn sie denn welche haben) mit dem Kopf auf die Tischkante aufschlagen würde. Wiederum: all diese Parteien sind weit entfernt davon, in den Bundestag einzuziehen, und auch hier wäre ein kleiner Achtungserfolg vielleicht ein Signal für eine breit aufgestellte Diskussion über die christlichen Grundlagen unserer Gesellschaft.
Als Konservativer wäre es dann durchaus die CDU, die meine Stimme bekommen könnte. Wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass die Merkel-Partei auch in Zukunft an der Aushöhlung konservativer Positionen arbeiten würde. Weder christlich noch konservativ waren die Richtungsentscheidungen der Partei und wenn sie es waren, dann nur halbherzig und mit erheblichem Widerstand durch den progressiv-linken Flügel. Eine Merkel-CDU in der eine Frau von der Leyen eine noch wichtigere Rolle einnimmt als bisher schon für einen katholisch-konservativ-libertären Wähler keine Alternative.
Die FDP achja, wenn in meinem Wahlkreis ein Frank Schäffler zu wählen wäre, bekäme er meine erste Stimme. Aber eine Partei, die offenbar immer noch glaubt, ihr letztes fulminantes Bundestagswahlergebnis sei das Resultat ihrer eigenen politischen Leistung und die dann so gut wie jedes Feld geräumt hat und heute tatsächlich mit einem Wahlplakat gegen Steuererhöhungen in den Wahlkampf zieht statt den Steuersumpf gründlich trockenzulegen ich kann meine Meinung auch gleich für irrelevant erklären.
Zu SPD, Grünen und Linken oder auch Piraten muss ich nach dem oben geschriebenen sicher nichts mehr sagen: der ganze linke Block der etablierten und potenziellen Bundestagskandidaten steht meinen wirtschaftspolitischen wie ethischen Vorstellungen so fern wie nur irgendwas. Wenn diese Parteien eine Rolle bei meiner Wahlentscheidung spielen dann insofern, den Einzug ins Parlament oder die Beteiligung an einer Bundesregierung zu verhindern.
Intensiv diskutiert wird oft die AfD, die aber für einen Libertären und Christen nicht Fleisch noch Fisch ist. Sicher, sie sind nicht die Feinde eines christlichen Menschenbildes wie die eine oder andere linke oder rechtsextreme Partei, aber bislang haben die es mit ihrer Euro-Kritik noch nicht geschafft, ihrem Namen Ehre zu machen. Zurück zur DM oder Reduzierung der Euro-Teilnehmer auf Staaten mit annähernd gleicher Wirtschaftsleistung? Das eine ist genau so ein fiat-money wie das andere, so ist die Partei schon mit ihrem Leib-und-Magen-Thema keine Alternative.
Dann gibt es noch ein paar weitere Klein- und Protestparteien, die aber abgesehen von ihren in Teilen abstrusen politischen Vorstellungen für mich gar nicht notwendig sind, weil ich (siehe pdv und PBC) durchaus Kandidaten für eine Wahl ohne Chance zum Einzug in den Bundestag sehe, deren Positionen ich zumindest im Kern teile. Mehr Protest muss gar nicht sein.
Der Leser, der möglicherweise meine Einstellung teilt, sieht schon: Gar nicht so einfach zu entscheiden. Letztlich, ich werde hier natürlich keine Wahlempfehlung abgeben, bleibt eigentlich nur die Frage einer Überzeugungswahl oder einer taktischen Wahl: Möchte ich mit meiner Wahl so weit wie irgend möglich meiner persönlichen Einstellung zu einem Erfolg verhelfen, auch wenn diese im großen Maßstab nicht wahlerfolgsträchtig ist? Möchte ich umgekehrt unseren Land wirklich eine Regierung zumuten, die ich selbst noch weniger gewählt hätte als die aussichtsreichste Alternative wenn ich meine Stimme an eine Kleinpartei vergebe, der ich lediglich einen Achtungserfolg gönne? Wenn es heute viele Umfragen gibt, die darauf hinweisen, dass es noch einen erheblichen Anteil an unentschlossenen Wählern gibt (die die Parteien aller Couleur am liebsten für sich reklamieren), dann mag ein nicht unerheblicher Anteil sich genau meine oben genannten Gedanken machen, vielleicht in anderen Ausprägungen. Das hat erst mal nichts mit Politikverdrossenheit oder mangelndem Interesse an Politik zu tun (wenngleich es auch große Wählerschichten zu geben scheint, auf die das zutrifft), sondern mit der Frage, wem ich meine Stimme für die kommenden vier Jahre geben möchte. Wer Demokratie zwar durchaus kritisch sieht aber ernst nimmt, der wird am 22. September seine Stimme nicht einfach verschleudern.
Vielleicht täten gerade die etablierten Parteien gut daran zu beobachten, wie sich denn das vermeintlich eigene Wahlvolk orientiert, nicht um die eigene Fahne in den Wind zu hängen aber um auch nicht Gefahr zu laufen, eigene Positionen wegen angeblich fehlender Klientel aufzugeben.
Moin
Hallo,
ich kann Ihr Dilemma gut verstehen.
Da ich nicht zwischen Pest und Cholera wählen will, habe ich mich entschlossen, eine Kleinpartei (hier die Ökologisch-Demokratische-Partei oedp) zu unterstützen, da mir diese vom Programm her sehr zusagt. Deshalb bin ich Mitglied geworden und versuche sie, bekannter zu machen. Meine Stimme ist nur scheinbar verloren, denn die Partei erhält für jedes Mitglied und für jede abgegebene Stimme bei der Wahl eine festgelegt staatliche Unterstützung. Auch wenn die Partei nicht im Parlament ist, kann ich doch durch meine Stimme diese fördern.
Vielleicht sagt Ihnen die oedp auch zu !? (s. http://www.oedp.de). So wie Sie schreiben, dürfte Ihnen das Menschenbild der oedp passen.
Eigentlich müssten die Nichtwähler einmal konsequent nicht im Bundestag vertretene Parteien wählen (natürlich keine Extremisten), damit die etablierten Partein aufwachen. So 30 Prozent für die „Sonstigen“ wäre doch mal ein Anfang ;-)
Ich wünsche Ihnen alles Gute und Gottes Geist für eine gute Wahlentscheidung.
Claudia Sperlich
Bei der AfD habe ich kürzlich angefragt, wie sie zum Thema Abtreibung steht, und bekam zur Antwort, daß sie das erst nach der Wahl beschließen wollen. Damit sind sie für mich unwählbar – denn sie könnten ja durchaus für eine Liberalisierung eintreten.
Problem: Alle anderen Parteien sind für mich auch unwählbar.
Leonard M
Ihre Kritik an der AfD kann ich so nicht ganz nachvollziehen. Beides ist „fiat-Money“, das stimmt… aber wenn das Grundproblem bei Union und AfD dasselbe ist, wähle ich doch anhand sekundärer Kriterien (welche Partei kann im Rahmen des Systems die Eurokrise am besten handhaben und da die Union ja offenbar auf Masstricht pfeift, wähle ich daher AfD). Das wäre in etwa so, als ob ein Linker sich weigern würde, pro Mindestlohn zu stimmen, weil damit ja noch nicht alle Produktionsmittel verstaatlicht würden und die „Wurzel des Übels“ somit unangetastet – man kann doch nicht warten, bis ein politischer Messias daherkommt 8als Christ eh nicht!) sondern das geringste Übel wählen.