Das Spannungsfeld zwischen Barmherzigkeit und Urteil wird an wenigen Stellen so deutlich wie im heutigen Tagesevangelium.
Ist das Begriffspaar Barmherzigkeit und Urteil nicht eigentlich ein Widerspruch? Kann man, wenn man urteilt auch barmherzig sein oder kann der Barmherzige noch urteilen? Die Frage kann man sich stellen, wenn man das heutige Tagesevangelium (Johannes 8,1-11) liest und es in die heutige Zeit zu übertragen versucht. Hier nur als Zitat und als Erinnerung der Schluss des Evangelientextes, in dem eine Ehebrecherin von Jesus geführt wird und er auf die Frage, wie man mit ihr verfahren solle, geantwortet hatte „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie.“:
Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt? Sie antwortete: Keiner, Herr. Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!
Übeträgt man das auf die heutige Zeit, stellt sich jedem von uns ganz persönlich die Frage, wann ich zu urteilen versuche und wann ich es schaffe, barmherzig zu sein. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beidem , Urteil und Barmherzigkeit, wird aber wie ich finde hier ganz deutlich: Ein Urteil wie auch Barmherzigkeit kann ich an sich nur für die Vergangenheit aussprechen. Jemand hat mir etwas angetan und bittet mich dafür um Vergebung: Als Christ, der Jesus nachfolgen will, bin ich nun aufgefordert, ihm zu vergeben – „siebenundsiebzigmal“ (Matthäus 18,22). Aber was soll ich von jemandem halten, der mir sagt, dass er mir etwas antun möchte, und nun meine Barmherzigkeit im Vorhinein einfordert: Du bist doch Christ, Du musst mir doch dann vergeben. Das wären Formulierungen, die wir in der Sprache der Bibel den Frevlern zuordnen würden. Barmherzigkeit ist so nicht zu erlangen.
Und so formuliert auch Jesus für die Vergangenheit einen Schlussstrich: Er ist mit der Frau barmherzig für die Dinge, die sie getan hat und die verurteilenswert waren. Man kann nur spekulieren, welche Erleichterung diese Frau bei der „Lossprechung“ erfahren haben mag, die sie direkt von Jesus erlangte, wie wir sie heute in der Beichte erfahren. Jesus wird in ihrem Herzen die Reue gesehen haben … und wohl keinen Gedanken wie „Klasse, der hat mich rausgehauen, jetzt kann ich weiter machen wie bisher!“.
Darum auch der wesentliche Nachsatz: „Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ In gewisser Weise spricht Jesus hier doch ein Urteil in die Zukunft, bzw. über zukünftige Taten: Was Du getan hast war Sünde. Die Sünden der Vergangenheit sind Dir vergeben, aber das heißt nicht, dass Du so weiter machen kannst. Die Beurteilung der Taten ändert sich in keiner Weise, nur das Urteil über den Sünder – er erfährt Barmherzigkeit!
Gerade wird wieder diskutiert, wie es denn mit der Pastoral für wiederverheiratete Geschiedene weitergehen soll. Ist man ihnen nicht im christlichen Sinne Barmherzigkeit schuldig? Diese Frage lässt sich nicht leicht abwenden. Wenn ich mein Verhalten mit dem von Jesus vergleiche, sehe ich im Zweifel immer schlecht aus. Aber gerade hier zeigt sich, wie Jesus ganz offensichtlich Barmherzigkeit verstanden hat: Im Sakrament der Ehe verbunden zu sein, sich dann zu trennen und mit jemand anderem in eheähnlicher Gemeinschaft zu leben – nach staatlicher Gesetzgebung legitim, ist nichts anderes als Ehebruch. Und Jesus wird dem reuigen Ehebrecher immer wieder Barmherzigkeit schenken. Wenn also heute jemand in der Gemeinde jemanden nicht mehr akzeptieren mag, der die Ehe gebrochen hat, der muss sich die Frage gefallen lassen: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein.“ Uns steht kein moralisches Urteil an Jesu statt zu.
Der Ehebrecher muss sich aber auch heute die Aufforderung zu Herzen nehmen: „Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ Und hier setzen Progressive an: Ist das noch zeitgemäß, von jemandem ein Leben ohne Sünde zu verlangen, noch dazu, wenn das Verständnis dafür, dass es sich um eine Sünde handelt, gar nicht mehr besteht. Und um den Druck auf die Konservativen zu erhöhen wird eine andere Formulierung gewählt: Ist es barmherzig, ein Leben ohne Sünde zu fordern?
Nach dem oben gesagten muss man eigentlich feststellen: Die Frage ergibt so keinen Sinn! Es wäre unbarmherzig, die Sünden der Vergangenheit nicht zu vergeben. Aber „vorauseilende“ Barmherzigkeit für die Zukunft? Viele Fürsprecher einer angepassten Pastoral beheupten, man wolle doch am Eheverständnis gar nicht rühren, es sei doch aber ein Akt der Barmherzigkeit, die Beziehungen wiederverheirateter Geschiedener segnen zu können. DAS ist aber ein Widerspruch. Wer nicht am katholischen Eheverständnis rütteln will, für den ist die Ehe ein Sakrament und unauflöslich und für den sind zukünftige Beziehungen ein Ehebruch.
Man kann sich fragen, wie man damit in der Pastoral umgeht und ich bin hier auch kein Freund einfacher Lösungen nach dem Motto „Ist eine Sünde und daher zu verurteilen“. Hier zeigt sich die Barmherzigkeit mit der Vergangenheit und auch die Barmherzigkeit im Angesicht der eigenen Schwächen und Sünden. Papst Franziskus hat immer wieder aufgefordert, wir müssten an die „Ränder“ gehen: Genau hier sind sie, und jeder versündigt sich an den Betroffenen, der sie von vorneherein aus der Gemeinschaft ausschließen will, selbst dann, wenn der Schwierigkeiten hat, sich zu ändern.
Aber eine wie auch immer geartete Segnung, ein „Gutheißen“ dieses Ehebruchs aufgrund mildernder Umstände? Was hier verlangt wird ist, trotz gegenteiliger Beteuerungen, eine fundamentale Änderung des Eheverständnisses. Man schreckt davor zurück es so zu benennen, weil Jesus in wenigen Dingen so klar war wie in der Lehre über die Unauflöslichkeit der Ehe, also behauptet man, das ändere doch gar nichts. Es ist aber hoffentlich auch denen, die sich für eine Änderung einsetzen deutlich geworden, dass das eine ganze Menge ändert – nicht zuletzt auch für die, von denen Kardinal Paul Josef Cordes in einem Interview mit Merkur-Online im Hinblick auf diese Diskussion in der Familiensynode sprach: „Vielleicht fällt den Synodenvätern sogar ein, denen ihre Hochachtung auszusprechen, die aus Treue gegenüber dem einmal gegebenen Eheversprechen keine neue Bindung eingegangen sind. Auch sie gibt es.“
Die Beurteilung einer Tat und die Barmherzigkeit gegenüber dem Täter sind kein Widerspruch. Geforderte und vorauseilend gewährte Barmherzigkeit ist aber ein Widerspruch in sich und leistet lediglich der Sünde Vorschub. Es erleichtert möglicherweise dem einen oder anderen das Leben, besser macht es sie nicht!
Rosemarie Steins
Genau so sehe ich das auch.
Túrin Turambar
Ich sehe das ähnlich, aber nicht genau so – wobei man das als Wortklauberei abtun kann, die ich aber durchaus für relevant halte (wohl, weil es sich um meine Wortklauberei handelt).
Die Frage ,,Ist es barmherzig, ein Leben ohne Sünde zu fordern?“ ist eine sinnvolle Frage. Kurz: Ja.
Ein Leben in Sünden ist tolerabel, aber nicht akzeptabel. Ersteres für einen selbst und andere, letzteres objektiv. Es wäre umgekehrt unbarmherzig, es nicht zu fordern (in diesem Fall ist ein Drittes nicht gegeben). Wobei fordern ein eigenartig gewählter Begriff ist. Die Barmherzigkeit besteht darin, von Jesus, der Wahrheit zu berichten und zu belehren. Das wird und wirkt aber hypokritisch, wenn man sein Leben nicht selbst danach ausrichtet, oder zumindest es versucht.
Gottes Barmherzigkeit beschränkt sich nicht auf die Vergangenheit – auch, wenn sie die Umkehr vorraussetzt: immerhin kann man wiederholt beichten, was bei den Gewohnheitssünden, den sogenannten Todsünden, auch notwendig ist, um sie zu überwinden. Sie ist in diesem Sinne nicht ,,vorauseilend“ – aber sie wird da sein. Als Christen sind wir aufgefordert so barmherzig, wie unser Vater im Himmel, zu sein. Auch, wenn sich manche im voraus auf unsere Barmherzigkeit verlassen und dies ausnutzen, so ist dies zu verzeihen, denn selbes tut auch der Vater. Es ist nur zu beachten, daß das eine eigene, besonders schwere, Sünde ist, der sich auch jeder Katholik schuldig macht (sie ist logisch gesehen, als solche unter Gläubigen notwendig verbreiter), wenn er bewusst eine Sünde begeht, eingedenk Gottes Barmherzigkeit und der Möglichkeit der Beichte. Im allgemeinen sehr schwach mit Hoffart übersetzt. ,,Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“
Timor fundamentum salutis est, praesumptio impedimentum timoris.
Spes sine timore praesumptio est.
Die Furcht ist die Grundlage des Heils, die Hoffart ein Hindernis für die Furcht.
Hoffnung ohne Furcht ist Hoffart.
Tertullian ist zwar mit Vorsicht zu genießen, aber dumm war er mit Sicherheit nicht.
Grüßle
Túrin Turambar
Papsttreuer
Danke für diese Gedanken, die ich mal nicht als Widerspruch sondern sinnvolle und notwendige Ergänzung werte.
Gottes Segen!