Über Sinn und Unsinn von Bundesjugendspielen darf man diskutieren. Der Einsatz für eine Abschaffung verweist aber auf ein dringendes gesellschaftliches Problem.
Kugel an den Hals, ungeschickte Drehung, wegstoßen – eigentlich eher werfen … und da plumpst sie auch schon auf den Boden! An die genaue Entfernung erinnere ich mich nicht mehr, aber dieser Ablauf verdeutlicht vermutlich mein schulisches Leistungsniveau in der Leichtathletik, hier beim Kugelstoßen. Besonders sportlich war ich nie, und was den Effekt noch verschlimmerte: Im Gegensatz zu anderen Fächern auch nie mit einem besonderen Ehrgeiz gesegnet. So waren Bundesjugendspiele in meiner Kindheit immer auch Gelegenheiten, mein Unvermögen in geringer Punktezahl dokumentiert zu sehen. Schön war das nicht, Versuche, meine Eltern zu überreden, mir für den Tag eine Entschuldigung zu schreiben, scheiterten immer.
Heute gibt es – wie man den Presseberichten über eine Petition zur Abschaffung der Bundesjugendspiele entnehmen kann – eine Ehrenurkunde für gute sportliche Leistungen und eine Teilnehmerurkunde für den Rest. Zu meiner Zeit war das noch anders: Ehrenurkunden für die „Sportler“, Siegerurkunden für die, die ein Mindestmaß an Sportlichkeit dokumentieren konnten und keine Urkunde für diejenigen, die durch das Raster gefallen sind. Zu letzteren gehörte ich auch regelmäßig. Schön war auch das nicht, von der offiziellen Verleihung ohne Dokument abziehen zu müssen – eine Tragödie allerdings auch nicht.
Diese Erinnerungen, auch an Auswahlverfahren zu Fußball- und Basketballmannschaften, an gescheiterte Tunrübung unter hochgezogenen Augenbrauen meiner Sportlehrer, an die Aussage meiner ersten Sportlehrerin in der Grundschule, ich würde nie schwimmen lernen, kommen hoch, wenn ich lese, wie sich Christine Finke, Mutter, Journalistin und Kommunalpolitikerin mittels einer Petition um die Abschaffung dieses – wie sie findet – demütigenden Rituals bemüht. In einem Spiegel-Interview erläutert sie, dass ihr Sohn weinend mit einer Teilnehmerurkunde nach Hause gekommen sei und argumentiert, dass „die Demütigungen bei den Bundesjugendspielen besonders schlimm [sind], weil es da ganz elementar um den eigenen Körper geht, um einen selbst. Es gibt schon genug Druck in der Schule, der sollte durch Sport nicht noch verstärkt werden.“
Obschon die Petition mittlerweile tausende Unterstützer gefunden hat, ist es mittlerweile wohlfeil, sich darüber lustig zu machen. Die Mehrheit in den sozialen Medien – so mein Eindruck – ist gegen eine Abschaffung, sieht das Bestreben in einer Reihe stehend mit gleichmacherischen Tendenzen, die die „Schwachen angeblich vor den Starken schützen sollen, dabei aber nur die Starken schwächen.“ Abschaffung von Schulnoten, nach Leistungsfähigkeit gestaffelte Schulnoten, Abschaffung des Sitzenbleibens, Orientierung des Unterrichtsinhalts an den Leistungsschwachen … vielleicht ist Christine Finke mit ihrem Ansinnen auch einfach nur zu spät, sodass der eine oder andere meint, das brächte das Fass zum Überlaufen. Folgerichtig wäre die Abschaffung der Spiele in diesem Zusammenhang schon.
Dass das Leistungsprinzip in unserer Gesellschaft, jedenfalls in den Medien, nicht gerade hoch gehalten wird, ist kein Geheimnis. Der Journalist und Blogger Klaus Kelle weist darauf hin, dass diese Entwicklung auch zu Auswanderungstendenzen deutscher Leistungsträger führt („Wir reden viel über die Zuwanderung, aber nie darüber, warum so viele gut ausgebildete Leistungsträger abhauen, und was das für unsere Zukunft bedeutet“). Leistung ist und Leistungsträger sind für die Gesellschaft, gerade wenn sie sich als sozial aufstellen will, wichtig. Sie zu vergraulen, ihnen nahezulegen, dass ihre Leistung als unsozial empfunden wird, schadet nicht nur ihnen sondern am Ende auch den Schwächeren, die der Unterstützung bedürfen. Bereits den Kindern das Leistungsprinzip auszutreiben, lieber auf Wettbewerb zu verzichten als zu akzeptieren, dass es dabei neben den Gewinnern auch Verlierer geben wird, das erscheint den meisten, auch solchen, die ansonsten kein gutes Haar an der Elitenförderung lassen, offenbar doch zu weitgehend.
Das ist anscheinend Konsens, auch wenn der Streit darum, ob es nun ausgerechnet sportliche Wettkämpfe sein müssen, damit nicht beendet ist. Es gibt allerdings einen Aspekt, der hierbei gar nicht berücksichtigt wird, nämlich die Frage, wie mit einer Niederlage umgegangen wird, oder genauer: Wie und von wem lernen Kinder, wie sie mit Niederlagen, auch persönlichen Demütigungen umgehen können?
Wenn ich mit schlechten Noten oder ohne Siegerurkunde nach Hause gekommen bin, haben meine Eltern nicht beim Lehrer angerufen, um mit ihm über die Ungerechtigkeit der Benotung zu diskutieren, geschweige denn dass sie eine Petition gegen ein Leistungprinzip gestartet hätten. Diese Art der Unterstützung hätte ich mir vielleicht manchmal gewünscht, gut gewesen wäre sie aber nicht! Stattdessen haben sie mich aufgefangen, mich getröstet, mich motiviert, mich im Bemühen um schulische Besserung nach Kräften unterstützt. Kurz: Sie haben das getan, was Eltern tun, die wollen, dass ihre Kinder als Erwachsene bestehen können. Dazu muss aber – damals wie heute – erstens der Wille und zweitens die Zeit vorhanden sein. Meine Eltern stammen aus einer Generation, die sich diese Zeit noch genommen hat, aber heute…?
Wenn beide Elternteile Vollzeit arbeiten, die Beschäftigung mit den Kindern aus diesem Grund neben Schule und Ganztagsbetreuung in Sport-, Musik- und anderen Vereine ausgelagert wird, bleibt für die intensive Auseinandersetzung mit den Sorgen des Kindes und dessen Ursachen nur wenig Zeit. Da kommt man schnell auf den Gedanken, Probleme nicht an der Wurzel zu packen sondern bei den Symptomen. Dann sind es eben die Lehrer, die dem Kind durch Noten die Zukunft verbauen. Dann ist es eben das äußere Leistungsprinzip, dass bei den Kindern Demütigungen und seelische Schäden verursacht. Frau Finke erweist mit ihrer Petition, wie viele andere Eltern auch, die zu ihren Interventionen bei Lehrern und Trainern gar keine Alternative sehen, einen Bärendienst. Er wird nicht gestärkt, er wird nicht motiviert, nicht zur Anstrengung angeleitet – er lernt, dass Wettbewerb schlecht ist, das Leistungsprinzip ungerecht. Und das nicht, weil die betreffenden Eltern das so meinen, sondern weil sie keine andere Möglichkeit der Reaktion sehen.
Was also notwendig ist, um Kindern wie den Sohn von Frau Finke zu stärken, ist der Rückhalt in der Familie, bei den Eltern. Einmal mehr in den Arm nehmen, einmal mehr zuhören, einmal mehr ein aufmunterndes Wort, einmal mehr die Liebe der Eltern dem Kind zeigen, das hilft den Kindern! Diese Dinge brauchen Zeit … und die Zeit, die Christine Finke für die Einrichtung und Vermarktung der Petition benötigt hat, kann sie ihrem Sohn jedenfalls jetzt nicht mehr schenken!
Friedhild Moldmann
Jetzt muss ich (40 Jahre Schuldienst) doch auch mal meinen Senf dazu abgeben: Die Siegerurkunden gibt es immer noch – neu sind nur die Teilnehmerurkunden…
Ein Aspekt fehlt mir aber in allen Betrachtungen, die ich bisher zu diesem Thema gelesen habe – es gibt Schüler, für die ein Sieg bei den Bundesjugendspielen das einzige Highlight in ihrem von Misserfolgen gespicktem Schuljahr darstellt! Da könnte man doch gleich die Abschaffung aller Leistungskontrollen fordern….
Als Lehrerin war es mir immer wichtig, aufzuzeigen, dass niemand alles können muss. Der eine schreibt tolle Aufsätze, eine andere fehlerfreie Mathearbeiten, ein dritter kann in Sachkunde den Wind und das Wetter erklären, die Nachbarin kann toll malen, ein anderer musizieren…. und manche sind eben sportlich.
Das Problem sind die Eltern, die ihre Kinder in so viel Watte packen, so dass diese keine Chance mehr haben, lebenstauglich zu werden!