Hat sich Papst Franziskus mit seiner Interviewäußerung vom „Bellen der Nato vor Russlands Tür“ als Putin-Versteher geoutet? Natürlich nicht, aber er möchte – in einem positiven Sinn – einer werden.
Führt man einen Blog dieses Namens, muss man das eine oder andere Mal seufzen und überlegen: War die Namenswahl damals so günstig? Ursprünglich gemeint als kleine, aber feine Verteidigungsbastion gegen unberechtigte Angriffe vor allem aus der Medienwelt, aber auch aus insbesondere deutschen Theologenkreisen gegen den damaligen Papst Benedikt XVI., ist die Sache mit Franziskus komplizierter geworden: Die Verlautbarungsdichte ist größer, die Aussagen selbst weniger theologisch geschliffen, was zu einer Nahbarkeit des Papstes um den Preis der Genauigkeit geführt hat.
Von „Kaninchengate“ bis Zaudern
Ich verweise mal auf das sogenannte „Kaninchengate“, bei dem der Papst im Rahmen eines Interviews äußerte, Katholiken müssten sich hinsichtlich der Fortpflanzung auch nicht verhalten wie Kaninchen. Ich habe damals, 2017, dazu geschrieben, dass bei allem Verständnis für das Gemeinte eine solche Formulierung „Papst Benedikt nicht mal nachts um drei unter Drogeneinfluss über die Lippen gekommen“ wäre. Problematisch ist nicht erst seit dem Tag, dass Franziskus offanbar nur ungern einer Interviewanfrage oder einem Mikrofon aus dem Weg geht, und das nicht immer nur bei wohlwollenden Medien.
Insofern darf man dem Papst dankbar sein, dass sich seine öffentlichen Äußerungen zum Thema Ukrainekrieg bislang im Wesentlichen auf das Verurteilen der Aggression und Gebetsaufrufe sowohl für Opfer als auch für (die Umkehr) der Täter und einige diplomatische Bemühungen im Hintergrund beschränkte. Das wurde ihm von den Lautsprechern in der Politik als Zaudern ausgelegt – einer Interpretation, der ich angesichts der komplizierten Lage nicht folgen mag.
„Bellen der Nato“
Nun also das Wort vom „Bellen der Nato vor Russlands Tür“ – und die deutschen Guten bekommen schon wieder Schnappatmung. Denn es kann nicht sein, was nicht sein darf. Oder anders: Wenn sich deutsche Politiker und Regierungsvertreter aus dem linken politischen Spektrum schon auf die Lieferung „schwerer Waffen“ (wobei ich bei dem einen oder anderen Vertreter insbesondere der Grünen schon noch mal aus Nickeligkeit nachfragen würde, wie sie das denn definieren wollen) in ein Kriegsgebiet geeinigt haben, dann kann es doch nicht sein, dass das Schwarz-Weiß-Schema auch nur durch graue Sprenkel verwischt wird.
Dabei haben historisch versierte Kommentatoren schon vor Beginn des Krieges auf die nicht ganz einfache geschichtliche Verbindung zwischen Russland und der Ukraine hingewiesen. Jeder Kommentator, der differenziert argumentieren möchte, sieht sich seither unter dem Zwang, eine Präambel vorzuschicken, nach der nachfolgende Argumente selbstverständlich keine Entschuldigung für die russische Aggression darstellen sollten.
Versuch der Einordnung
Was der Papst aber mit seiner Äußerung – und in deren Zusammenhang noch getätigten Äußerungen – versucht, ist nicht weniger, als das Handeln Russlands oder Putins zu verstehen. Wenn man mal hoffnungsvoll davon ausgehen darf, dass Putin nicht einfach ein Geisteskranker ist, dem es gelungen ist, Russland hinter sich zu vereinen, sondern Interessenpolitik im Sinne seiner Nation zu betreiben versucht, dann wird man nicht umhin kommen, in ihm nicht einfach nur das Böse oder den „Irren“ zu erkennen, sondern höchstens den „Irregeleiteten“.
Also: Was ist das Ziel Russlands? Und kann Russland dieses Ziel auch anders erreichen? Wer oder was steht Russland bei der Erreichung der Ziele aus welchen Gründen im Weg? Natürlich auch: Was sind die Interessen der Ukraine? Was die der anderen angrenzenden Staaten? Die der EU, der Nato, des „Westens“? Und zuletzt: Was kann man also tun, dass man zu einem Interessenausgleich kommt, bei dem nicht einfach nur einer als Sieger vom Platz geht sondern alle Interessen berücksichtigt werden? Oder wie Henry Kissinger mal gesagt hat: „Ein Kompromiss ist nur dann gerecht, brauchbar und dauerhaft, wenn beide Parteien damit gleich unzufrieden sind.“
„Zuerst Putin treffen“
Unter diesen Maßgaben ist auch zu verstehen, wenn sich der Papst nach Kritik an der russischen Aggression und nicht zuletzt auch am russisch-orthodoxen Patriarchen Kirill, der sich nicht zu „Putins Ministranten“ machen dürfe, einer Reise nach Kiev vorerst eine Absage erteilte mit dem Hinweis „Zuerst muss ich nach Moskau fahren, zuerst muss ich Putin treffen.“ Das ist keine Geringschätzung der ukrainischen Regierung und ihrer Positionen. Diese werden aber in den westlichen Medien ausreichend zur Kenntnis genommen, während sich alle Welt darüber einig zu sein scheinen, dass sich die russischen Interessen mit dem Angriffskrieg erledigt hätten.
Emotional ist ein solcher Gedankengang verständlich, er scheint mir aber weder strategisch klug noch sonderlich an der Wahrheitsfindung interessiert zu sein. Wie immer wird auch hier gelten: „Wo alle einer Meinung sind, wird meistens gelogen.“ Wenn Franziskus also von einer „Wut“ der Russen spricht, von der er nicht wisse, „ob man sagen kann, dass sie provoziert wurde, aber vielleicht erleichtert“ dann spricht aus diesen und seinen anderen Worten zu diesem Thema nicht nur die Sorge um das Wohl – auch das geistliche Heil – der betroffenen Menschen, sondern auch das Bemühen zu verstehen. Wer das nicht möchte, wer ein Abwägen für nicht mehr opportun oder gar moralisch falsch hält, der setzt sich selbst ins Unrecht, und muss sich fragen lassen, welchen Interessen denn diese Weigerungshaltung entspringt.
Präambel am Schluss
Die gemeinsame Geschichte Russlands ist vielschichtiger, als dass man sie nur auf diesen Krieg reduzieren könnte. Sie reicht bis weit ins Mittelalter zurück, und ist in wenigen Sätzen kaum zu beschreiben. Diese lange gemeinsame Geschichte, die Entfremdung durch die Freiheits- und Westorientierung der Ukraine seit 1989 und die Avancen der westlichen Staatengemeinschaften wie der EU oder der Nato, stehen dabei in einem Spannungsverhältnis. Dazu kommen noch aktuelle geopolitische Interessen der Russen und der nicht gerade schonende Umgang des Westens damit.
Das alles rechtfertigt keinen Angriffskrieg und keine solchen Zerstörungen, wie sie seit Monaten erfolgen. Das alles rechtfertigt vor allem nicht das Leid, das über die Bevölkerung der Ukraine – und auch über russische Soldaten und ihre Familien – gebracht wird.
Aber
Wenn man aber erreichen möchte, dass das Töten ein Ende hat, ohne dabei auch die berechtigten Interessen der Ukraine zu vergessen, dann gibt es dazu im Wesentlichen nur zwei Wege: Den der militärischen Vernichtung des Aggressors zumindest innerhalb der Ukraine oder eben den Versuch, die jeweiligen Handlungen zu verstehen und so möglichst bald zu einer Verhandlung und dann zu einer Verhandlungslösung zu kommen.
Da sich erstere Alternative vor dem Hintergrund des militärischen Potenzials Russlands wohl ausschließt, bleibt nur der Weg, zu verstehen zu versuchen, wie der Krieg eskalieren konnte – dazu gehört auch, die Rolle des Westens und der Nato zumindest zu hinterfragen und in ihnen nicht einfach „die Guten“ zu sehen. In der deutschen Politik, in der man sich ganz ungewohnt aktuell in Säbelrasseln übt (ohne freilich selbst Säbel zu besitzen), scheint die Bereitschaft dazu aber nicht eben hoch zu sein – vielleicht weil es dem eigenen Narrativ nicht entspricht, das man sich nicht nehmen lassen will?
Der Papst ein Putin-Versteher?
Ob der Papst mit seiner Einschätzung richtig liegt, vermag ich nicht zu sagen – auch ich weiß selbstverständlich nicht alles, was es zu einer Einschätzung zu wissen gäbe. Und ob seine Einlassungen hilfreich sind, oder es besser gewesen wäre, wenn er dieses Mal dem Mikrofon aus dem Weg gegangen wäre, vermag ich auch nicht zu beurteilen. Mir fehlt aber die Fantasie, in Franziskus einen Putin-Versteher nach westlicher Diktion zu sehen – eher schon erkenne ich das Bemühen, auch denjenigen verstehen zu wollen, der sich ins Unrecht setzt (und sei es Vladimir Putin), ohne dabei das Unrecht verschweigen zu wollen. Wortwahl und mediale Verarbeitung kann man sicher kritisieren, an der Intention habe ich jedenfalls als Katholik nichts auszusetzen.
Dietmar Merchel
Der Pabst formuliert sehr vorsichtig und setzt damit einen leisen Ton gegen die Kriegspropaganda, so wie wir sie auch hier in Deutschland erleben, unsachlich und voller Hass. Aber ein leiser Ton vom Pabst ist in Wirklichkeit sehr laut, weil er alle Katholiken zum nachdenken bringt und sie sich hinter ihm stellen.
Ich habe in den letzten Tagen sehr viel zu dem Thema gelesen und mich umfassend informiert.
Wenn ich alles wie ein Schachspiel betrachte, dann wurden die Figuren von der Nato so gezogen, dass für Putin nur dieser eine Zug möglich war ohne das Spiel aufzugeben und sofort alles für sich und Russland zu verlieren.
Christof Liechtenstein
Dass das Mißtrauen der Völker des ehemaligen Ostblockes vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer gegenüber Russland, das zu ihrem Ansuchen des Schutzes im westlichen Verteidigungsbündnis führte, mehr als gerechtfertig war, beweist die grauenhafte und brutale Aggression gegen die Ukraine, die diesem Schutzbündnis nicht angehört.