Barmherzigkeit kann ich lernen. Aber kann ich sie auch annehmen?
Die Gebetsanliegen des Papstes gehören vermutlich nicht zu den Highlights im kirchlichen Leben. Das ist kein Mangel dieser Gebetsanliegen sondern der Unkenntnis, dass es diese Anliegen überhaupt gibt: Für jeden Monat des Jahres zwei Bitten, meist auch mit einem zeitlich-aktuellen Bezug. Aber wann haben Sie das letzte mal in der Kirche für die entsprechenden Anliegen des Papstes gebetet? Und kennen Sie die Gebetsanliegen für Dezember?
Keine Sorge, das ist nur insoweit ein Vorwurf als er mich auch selbst trifft: Bei den täglichen RC-Meditationen werden die Gebetsintentionen immer wieder mitgeliefert, und doch nehme ich sie viel zu wenig zur Kenntnis. In diesem Monat ist mir eine Bitte allerdings aufgefallen … weil das Thema eines ist, das einem selten selbst aufgeht. Die Bitte lautet:
Wir bitten um die Erfahrung von Gottes Barmherzigkeit, der nicht müde wird, Vergebung zu schenken.
Das passt natürlich zum Jahr der Barmherzigkeit. Aber mal Hand auf’s Herz: Wer denkt beim Thema Barmherzigkeit als erstes daran, selbst Vergebung nötig zu haben? Für mich jedenfalls stand das Jahr der Barmherzigkeit immer im Zeichen meiner Vergebung für andere: Mit wem gehe ich unbarmherzig um? Wer leidet darunter, dass ich ihm nicht vergebe? Notfalls auch noch: Welche Konsequenzen hat es für mich, dass ich so schlecht im Vergeben bin? Aber Vergebung selbst erfahren? Nutznießer von Gottes Barmherzigkeit zu sein – auch Nutznießer der Barmherzigkeit anderer zu sein? Nicht, dass einem dieser Gedanke als Christ völlig fremd wäre – ich gehe regelmäßig zur Beichte, bekenne meine Schuld und erfahre Gottes Barmherzigkeit. Aber auf das Thema an sich angesprochen, scheint es eher ein aktives – „Ich vergebe / sollte vergeben“ – denn ein passives – „Mir wird vergeben“ – zu sein.
Das gilt erst Recht, wenn es um die Vergebung geht, die mir andere Menschen zuteil werden lassen. Dass ich gegenüber Gott schuldig werde, das ist einem geschulten Gewissen hoffentlich einigermaßen präsent (übrigens auch ohne eine besondere „Schuldfixierung“). Aber wenn andere Menschen mir vergeben, dann doch weil ich an ihnen schuldig geworden bin. Ich habe Menschen nicht so behandelt, wie ich es sollte: Habe sie verletzt, war nicht aufrichtig zu ihnen, war nachlässig im Umgang mit ihnen, habe mich schlecht über sie geäußert … da hat vermutlich jeder so seine Themen (Heilige ausgenommen).
Womöglich stelle ich das sogar fest und bitte um Entschuldigung oder – schon eher – versuche, es wieder gut zu machen. Das „Ich bitte dich um Vergebung“ kommt uns einem anderen Menschen gegenüber jedenfalls nur schwer über die Lippen. Das mag erstens daran liegen, dass Schuld natürlich peinlich ist. Ein Priester hat es mir gegenüber mal auf einen einfachen Punkt gebracht: „Es ist doch peinlich, dass ich immer noch nicht heilig bin!“ Ich habe alle notwendigen Gnaden von Gott erhalten, bin nach Gottes Abbild geschaffen, und trotzdem falle ich immer wieder. Das kann uns vor Gott in der Beichte schon peinlich sein, aber vor anderen Menschen ist das Eingeständnis von Schuld wohl noch schwieriger.
Zweitens kann ich der Vergebung natürlich nicht sicher sein. Ob der andere barmherzig ist oder nicht, liegt in seiner eigenen Entscheidung. Mit meiner Bitte um Vergebung, mit meinem Eingeständnis von Schuld begegne ich dem Anderen in einer Position der Schwäche – durchaus vergleichbar meinem Auftreten gegenüber Gott, mit dem Unterschied, dass der andere eben nicht Gott ist. Ich kann ihm schon zutrauen, barmherzig zu sein, es kann aber auch sein, dass er mir die Vergebung verweigert. Darum erfordert die Bitte um Vergebung eine Menge Mut … und auch die Erfahrung, dass Vergebung durchaus möglich ist.
Da kommt dann wieder die Vergebung Gottes ins Spiel: Selbst da, wo Menschen mir nicht vergeben wollen, oder ich mich nicht traue, sie um Vergebung zu bitten, kann ich Gottes Barmherzigkeit erbitten. Ich kann meine Schuld beichten, bereuen, und mir vornehmen, wiedergutzumachen – und Gott wird mir vergeben. Diese Erfahrung ist es, die notwendig ist, und die das Gebetsanliegen des Papstes ausmacht. Und warum ist sie notwendig? Weil sie Mut macht: Mut, zu vergeben und Mut, um Vergebung zu bitten. Ersteres scheint auf der Hand liegend: Erfahre ich, dass Gott mir vergibt, wie komme ich dann dazu, einem anderen Menschen nicht zu vergeben? Das zweite ist schon schwieriger, eben weil die anderen Menschen nicht wie Gott sind, genau so Schwierigkeiten haben zu vergeben, wie ich selbst. Aber wenn ich das kann: Wieso nicht auch die anderen? Wieso traue ich den Menschen um mich herum weniger zu?
Und noch eine dritte Notwendigkeit der Erfahrung der Barmherzigkeit Gottes: Sie macht auch Mut, mir selbst zu vergeben und auf Gott zu vertrauen. Wieso plagt mich weiter ein schlechtes Gewissen, wenn Gott mir vergeben hat? Wieso hänge ich an den Dingen, die ich längst gebeichtet habe, wenn mich die Sorge umtreibt, wie Gott mich sieht? Ist meine mangelnde Vergebung mir selbst gegenüber, das Nachkarten meiner eigenen Schuld nicht eher ein Zeichen mangelnden Vertrauens in Gott? Ist es nicht der in der Ursünde angelegte Zweifel an Gott, der sich da Raum verschafft?
Umso wichtiger ist diese Erfahrung der Barmherzigkeit Gottes. Die kann ich nicht machen, ich kann nur versuchen, offen für sie zu sein: Den Worten des Beichtvaters „… spreche ich dich los …“ Vertrauen zu schenken, in ihm Gott selbst zu hören, der mich liebt und der mir vergeben will, der sich darum bemüht, mir vergeben zu können, und nur mein kleines Zutun dafür benötigt, damit seine Barmherzigkeit nicht in Beliebigkeit mündet.
Auch dazu eine Anekdote, die ich von einem Priester gehört habe: Ein mystisch begabter Priester hat einmal die Beichte eines Schwerverbrechers gehört und ihn losgesprochen. Anschließend spricht er mit Gott und fragt ihn, was denn die schlimmste Sünde dieses Menschen gewesen sei. Und Gott antwortet: „Ich weiß von keiner Sünde.“
Vielleicht ist es zu viel verlangt, sich der Barmherzigkeit Gottes zu jeder Sekunde unseres Lebens bewusst zu sein: Wir würden aus dem Jubel gar nicht mehr heraus kommen. Und doch sollten wir erbitten, dass wir diese Erfahrung in unseren Herzen machen. Nicht nur theologisch erklären können, was Gottes Barmherzigkeit ist (und was nicht), wie meine Barmherzigkeit sein sollte, sondern im Herzen Gottes Barmherzigkeit mir selbst gegenüber wahrnehmen. Das, so meine Überzeugung, würde die Welt wirklich besser machen. Und vielleicht ist das der Grund, warum Papst Franziskus das Jahr der Barmherzigkeit in Wahrheit ausgerufen hat: Natürlich auch, damit wir lernen, barmherzig zu sein, vor allem aber, um Gottes Barmherzigkeit zu erfahren und von ihr zu lernen.
Intellektuelles Weichei
Das erinnert mich an eine Predigt, die ich vor Jahren – könnte inzwischen auch schon ein Jahrzehnt sein – mal gehört habe und in der es um das Thema Nächstenliebe geht. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ – die meisten Menschen unterschlagen diesen „wie dich selbst“-Teil, weil sie es für ungehörig halten. Dabei ist es natürlich kein Aufruf zur Selbstverliebtheit, sondern ein Hinweis darauf, dass man sich auch selbst annehmen muss, mögen, lieben muss, und nur so auch seinen Nächsten lieben kann.
akinom
Ihre Gedanken, Herr Honekamp, über eine „Schule der Barmherzigkeit“ lassen sich nur von Lektion zu Lektion verarbeiten und „verdauen“.
Als Mutmacher wünsche ich mir da zunächst die Fülle eines Tabor-Erlebnisses: „Hier ist’s gut sein…“
Aber dann heißt es für uns: Vom Berg hinab steigen, ran an die Arbeit, Grabsteine von den Herzen wegwälzen, das Terrain erkunden und wohnliche Hütten bauen, für Gott, für die Nächsten und für mich!