„Wir müssen die Barmherzigkeit dem Gericht voranstellen“ sagt Papst Franziskus. Sollte für einen Christen doch leicht sein?
„Wenn alles der Sünde überlassen bliebe, wären wir die hoffnungslosesten aller Geschöpfe, während die Verheißung des Sieges der Liebe Christi alles in die Barmherzigkeit des Vaters einschließt.“ Das sind einfache Worte und doch manchmal so schwer zu verstehen. Gesagt hat sie Papst Franziskus in seiner Predigt zum Beginn des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit. Und noch einer: „Wir müssen die Barmherzigkeit dem Gericht voranstellen, und in jedem Fall wird das Gericht Gottes immer im Licht seiner Barmherzigkeit stehen.“ Was uns – jedenfalls mir – bei diesen Sätzen immer wieder in die Quere kommt, ist meine gefallene menschliche Natur, die darauf aus ist, ein Urteil zu fällen. Und aus dieser menschlichen Sicht fehlt mir die Phantasie, das Gott das vielleicht ganz anders sehen und machen könnte.
Ich blicke auf Menschen in meinem Umfeld, in der Politik und in den Medien, und mir fallen Fehler auf: „Was hat der da gesagt? Das hat die doch bestimmt so gemeint! Wie kann man sich nur so äußer?! Wie kann man sich nur so verhalten?!“ Wenn es gut läuft, setze ich mich in Relation dazu und mir wird bewusst, dass ich auch nicht gerade fehlerfrei bin, aber der Splitter im Auge meines Bruders bleibt doch immer im Vordergrund. Jaja, ich habe einen Balken im Auge, aber sieh doch erst mal auf deinen Splitter! (vgl. Matthäus 7,3) Jesus hat dieses Bild ja nicht benutzt, weil wir alle so einsichtig in unsere Fehler wären, in unsere Unbarmherzigkeit den Fehlern anderer gegenüber. Er kennt unsere Natur und mahnt uns darum.
Noch ein weiterer Satz des Papstes, den er sicher auch angesichts der Beteiligung von Papst em. Benedikt XVI. an der Öffnung der Heiligen Pforte ausgesucht hat: „Wieviel Unrecht wird Gott und seiner Gnade getan, wenn man vor allem behauptet, dass die Sünden durch sein Gericht bestraft werden, anstatt allem voranzustellen, dass sie von seiner Barmherzigkeit vergeben werden (vgl. Augustinus, De praedestinatione sanctorum 12,24)!“ Ich wehre mich immer dagegen, wenn der Kirche, wenn dem christlichen Glauben eine Sündenzentrierung vorgeworfen wird. Dabei geht es doch um Erlösung, um Vergebung, um Mitleid – eben um Barmherzigkeit. Aber auch wenn ich das weiß, kommt es doch in dem, was ich sage und schreibe zu wenig zum Ausdruck. Dazu erscheint mir der Splitter im Auge des Anderen einfach zu groß.
Gott aber ist größer: Er hat den Menschen nach seinem Abbild geschaffen. Er ist nicht derjenige, der die Sünde geschaffen hat, er ist derjenige, der von Beginn an mit Liebe und mit Mitleid auf die Menschen geschaut hat – vielleicht sogar noch mehr nach dem Sündenfall. Gott sieht in uns das Potenzial zum Guten, sieht in uns, wie wir werden können wie er. Barmherzigkeit bedeutet eben auch aus Gottes Sicht nicht, die Sünde zu übersehen. Er sieht aber auf die Sünde mit Barmherzigkeit. Und auch wenn es – nach den Worten Jesu selbst – das Gericht gibt, muss man es eben doch im Licht der Barmherzigkeit sehen. Jesus ist nicht gekommen, um die Welt zu richten, sondern um sie zu retten (vgl. Johannes 12,47). Unsere Ablehnung dieser Rettung führt zum Gericht, nicht eine wie auch immer geartete Rachsucht Gottes.
Und da bin ich wieder bei mir selbst angelangt: Ich kann das nicht alleine, aber mit seiner Gnade und meinem Bemühen sollte es doch gelingen, diese Barmherzigkeit Gottes auch in mein Weltbild zu integrieren. Das passt letztlich gut dazu, bei kirchlichen und politischen Themen nicht mehr so „unentspannt“ zu sein, aber es ist mehr: Auf diejenigen mit den Augen Jesu zu schauen, die ich nicht verstehe, die auch rein objektiv gegen Gott handeln, sollte in die Lage versetzen, auch die Feinde zu lieben. Ich kann von mir jedenfalls nicht behaupten, dass ich auf innerkirchliche oder auch politische „Gegner“ immer mit einem liebevollen, barmherzigen Blick schaue. Das ist auch nichts, was „da draußen“ in der Welt sonderlich honoriert würde, aber in den Augen Gottes ist es wertvoll:
Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch misshandeln. […] Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden. Und wenn ihr nur denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welchen Dank erwartet ihr dafür? Das tun auch die Sünder. Und wenn ihr nur denen etwas leiht, von denen ihr es zurückzubekommen hofft, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder leihen Sündern in der Hoffnung, alles zurückzubekommen.
Ihr aber sollt eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!
(Lukas 6,27-36)
An diesen Sätzen Jesu komme ich auch nicht vorbei, wenn ich im Recht bin – gerade dann nicht. Wenn ich (sachlich) im Recht sein sollte, diese Sätze Jesu aber nicht beherzige, setze ich mich selbst vor Gott ins Unrecht. Und er ist der Maßstab, nicht Sieg oder Niederlage in der Welt. Und in dieser Hinsicht ist die Reihenfolge „Barmherzigkeit vor Gericht“ auch wesentlich in der Verkündigung: Möglicherweise „gewinne“ ich mit Urteilen über das Handeln anderer Menschen eine Diskussion, habe Recht hinsichtlich der moralischen Einschätzung von Taten und Worten. Aber Jesus hat die Menschen auch nicht durch seine Worte über das Gericht gewonnen, sondern mit seiner Botschaft der Barmherzigkeit Gottes. Wenn ich das vergesse, muss ich mich nicht wundern, wenn Menschen sich durch meine Urteile vom Glauben an Gott abwenden. Und das ist dann meine Verantwortung, der ich mich im Gericht – im Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes – stellen muss.
Mannmannmann, bin ich noch weit davon entfernt, heilig zu sein!
Andreas
Ja ich weiß, ich schon wieder. Aber es ist halt fuer mich der zentrale Widerspruch zwischen Lukas und dem grossen Aussortieren in Matthäus. Dort gibt es naemlich keine Barmherzigkeit. Dort gibt es die ewige Verdammnis fūr die, die den geringsten nicht genug gegeben haben – ohne jeden Hinweis was denn wohl genug gewesen waere. Da gibt es kein Vergeben und keine Barmherzigkeit, selbst wenn man sich der Sūnden gar nicht bewusst war. Fuer mich wird hier das Kreuzopfer ad absurdum gefūhrt.
Papsttreuer
Lieber Andreas, der Schlüssel zum Verständnis liegt gerade darin, die unterschiedlichen Stellen gemeinsam zu lesen. Wie lassen die sich übereinanderbringen. Lesen wir „ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben …“ und „ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben“, dann läge der Schluss nahe, dass bereits ein solches Beispiel dazu führen könnte, aussortiert zu werden. Vielleicht ist es aber auch andersherum: „ich war hungrig, und du hast mir einmal zu essen gegeben …“? Darin zeigt sich dann die Barmherzigkeit Gottes, dass wir in unserem Leben ganz viele Chancen haben, ihm zu essen zu geben. Der Heilige unterscheidet sich dann vom „leider Normalen“, dass er immer wieder den Hungrigen zu essen gibt, und – das ist allerdings jetzt meine persönliche Interpretation – das Fegefeuer besteht nicht zuletzt in der Bewusstwerdung, wie oft ich Jesus habe hungern lassen.
Weder die eine noch die andere Evangelienstelle darf man nur für sich gesehen absolut setzen, Papst Franziskus weist nur auf den „Primat der Barmherzigkeit“ hin.
Ich hoffe, diese Gedanken helfen ein bisschen weiter? Gottes Segen für Sie!
Frontinus
Ich befürchte, daß der „ganze Rummel“, – mir fällt kein besseres Wort ein -, um die Barmherzigkeit zur Realitivierung der Sünde führen wird (- Wie soll man die Bestrebungen von Kardinal Kasper und seinen Mitstreitern sonst verstehen? -) und daß sie mit einer Art von „Halbwertszeit“ versehen werden wird, so daß die Sünde sich nach einer bestimmten Zeit von selbst aufgelöst hat.
Und wie soll ich in diesem Zusammenhang Judas 23 verstehen: „Verabscheut sogar das Gewand eines Menschen, der der Sünde verfallen ist.“?
Papsttreuer
Sehr geehrter Frontinus, danke für den Kommentar. Natürlich besteht immer die Gefahr, die Vergebung Gottes im Gegensatz zur Gerechtigkeit auszuspielen. Umso notwendiger erscheint mir aber die Klärung, was unter göttlicher Barmherzigkeit eigentlich zu verstehen ist, kirchenintern wie -extern, herbeizuführen. An den Extremen wird man da nicht fündig, und mit einer ausgewogegen Position auch keine große Presse ernten. Das Risiko, das sie beschreiben, sehe ich auch, aber noch mehr Chancen. Beten wir einfach für einen Erfolg des Jahres der Barmherzigkeit.
Gottes Segen!