Der Putsch in der Türkei war – abgesehen von Ungereimtheiten – undemokratisch. Ist aber mit dessen Ende der Rechtsstaatlichkeit gedient?
„Die demokratische Ordnung in der #Türkei muss respektiert werden. Alles muss getan werden, um Menschenleben zu schützen.“ – so lautet der Tweet des Regierungssprechers Steffen Seibert vom 15.07.2016. Die begrenzte Anzahl von Zeichen, die Twitter zur Verfügung stellt, macht Differenzierungen schwer, umso wichtiger sollte es in einer solchen Rolle wie der Seiberts sein, solche Äußerungen genau zu durchdenken.Ich will mich lieber nicht an Spekulationen beteiligen, ob der versuchte Militärputsch vom vergangenen Wochenende von Seiten Erdogans selbst eingefädelt wurde – zuzutrauen wär’s ihm, allerdings auch nicht ganz leicht unter der Decke zu halten. Im Ergebnis nutzt ihm nun aber dieser Putsch, öffentliche Stellen von Kritikern zu befreien. Es glaubt vermutlich auch in der Türkei niemand, dass rund ein Viertel der türkischen Richter in den Putsch verwickelt waren. Soviele wurden aber jetzt – in einer Hauruck-Aktion über’s Wochenende – aus ihren Ämtern entfernt. Dazu kommen noch jede Menge Polizisten (mein letzter Stand ist die Zahl 8.000), die ebenfalls entlassen werden sollen.
Demokratie
Zusätzlich wird berichtet, dass Präsident Erdogan laut über die Wiedereinführung der Todesstrafe nachdenkt. Das nicht zuletzt nicht nur mit dem Hinweis auf eine persönliche Rache, sondern darauf, dass die Bevölkerung dies verlange. Die Bilder vom Wochenende, bei denen offenbar türkische Putschisten von der aufgebrachten Menge gelyncht wurden, machen diese Einschätzung durchaus plausibel. Wenn die Mehrheit des Volkes ein Gesetz verlangt, dann ist es demokratisch legitim, darauf einzugehen.
Erdogan ist ein demokratisch gewählter Präsident. Seine Politik mag uns im Westen gefallen oder nicht – ein Militärputsch ist sicher keine zivilisierte Art, sich eines solchen Regierungschefs zu entledigen. Zumal man, wenn man Militärputsche der Vergangenheit heranzieht, Zweifel haben darf, ob die Generäle der Versuchung, an der Macht zu bleiben, widerstanden hätten. Auch hier also: Der Demokratie wird ganz sicher nicht damit auf die Beine geholfen, dass man demokratisch legitimierte Entscheidungen dadurch konterkariert, dass man sich – um einen vermeintlich besseren Zustand zu erreichen – über Mehrheiten hinwegsetzt.
Legitim?
Andererseits machen die Bilder aus der Türkei, die Rachegelüste des Präsidenten und der entfesselte Mob seiner Anhänger deutlich, dass demokratisch (legitimiert) noch lange nicht rechtsstaatlich (handelnd) bedeutet. Auf Facebook habe ich mich dazu zu einer Aussage verstiegen, die ich mit dem Hinweis „Zum darüber nachdenken“ wie folgt formuliert habe:
„Eine Diktatur kann rechtsstaatlich sein, eine Demokratie muss es nicht.“ Insbesondere der erste Teil der Aussage machte den Lesern zu schaffen, und ich gebe zu, dass unser heutiges Bild eines Diktators nicht gerade zur Hoffung anregt, dass so jemand rechtsstaatlich handelt.
Rechtsstaat
Grundsätzlich ging es mir aber um eine Minimalversion von Rechtsstaatlichkeit, die man bei Wikipedia zum Beispiel so beschrieben vorfindet:
Rechtsstaatlichkeit bedeutet, daß die Ausübung staatlicher Macht nur auf der Grundlage der Verfassung und von formell und materiell verfassungsmäßig erlassenen Gesetzen mit dem Ziel der Gewährleistung von Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zulässig ist.
[Quelle: Klaus Stern: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland – Band I, C.H. Beck, 1984, § 20 III 1 (S. 781).]
Eine solche Art der Rechtsstaatlichkeit kann man durchaus auch einem Alleinherrscher zutrauen. Es kommt das Bild eines wohlwollenden Monarchen in den Sinn, der bereit ist, sich auch an seine eigenen Rechtsverordnungen zu halten, und diese zum Wohl des Volkes und mit generationenübergreifender Verantwortung, einsetzt. Naiv? Vielleicht, aber nicht ausgeschlossen.
Ungerechtfertigte Gleichsetzung
Wesentlicher scheint mir aber der Umkehrschluss. Während nämlich der rechtsstaatlich agierende Alleinherrscher / Diktator vielleicht ein eher theoretisches Konstrukt ist, ist die faktische Gleichsetzung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durch die Politik und manche Medien in Bezug auf die Türkei mindestens ebensowenig legitim. Vielleicht sogar noch weniger, denn während bei einem Alleinherrscher nur dieser ganz persönlich von der Sinnhaftigkeit der Rechtsstaatlichkeit überzeugt sein muss, sind in einer Demokratie erst mal Mehrheiten hierfür zu besorgen.
„Gewährleistung von Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit“ – das ist sicher nicht das, was wir am Wochenende nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei beobachtet haben. Und man hat Anlass zu der Vermutung, dass das westliche Verständnis von Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit generell in der Türkei nicht mehrheitsfähig wäre, also keine demokratische Legitimation hat. Wenn Steffen Seibert bzw. die Bundesregierung also fordern, Menschenleben müssten geschützt werden, dann kann das durchaus im Widerspruch zur Forderung nach einer demokratischen Ordnung stehen.
Opportunismus
Wenn also jetzt gegenüber der Türkei die Forderung nach Rechtsstaatlichkeit hinter die nach Demokratie zurücktritt, darf man hier wohl eine gehörige Portion Eigeninteresse vermuten: Die Türkei ist – nicht erst seit der Flüchtlingskrise – ein strategisch wichtiger Partner des Westens. Sie spielt eine besondere Rolle in der Nato (bereits früher in der Konfrontation mit der Sowjetunion, heute im Kampf gegen den Islamismus des IS), ist ein wichtiger Handelspartner und soll – so der bisweilen fromme Wunsch unserer Kanzlerin – einen Großteil der offensichtlich unberechtigt in Deutschland „Schutz suchenden“, abhalten: Die angeblich nicht zu sichernde deutsche Grenze soll in der Türkei geschlossen werden.
Stellen sich also jetzt westliche Staatschefs, von Merkel bis Obama, hinter Erdogan, dann geht es ihnen dabei nicht um die Sicherung der Demokratie, ganz sicher nicht um die Bewahrung der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei. Es geht um handfeste nationale Interessen. Das kann man durchaus auch für legitim halten; einen anderen Eindruck vermitteln zu wollen ist aber heuchlerisch.