Leidet unsere Gesellschaft in der Flüchtlingsfrage an einer protestantischen Schuldzentrierung? Eine kleine Ergänzung zu Gerard Bökenkamps Beitrag in der „eigentümlich frei“.

Drehscheibe_Köln-Bonn Airport – Ankunft Flüchtlinge © Raimond Spekking / , via Wikimedia Commons
In einem wie ich finde sehr nachvollziehbaren Beitrag in der eigentümlich frei (Ausgabe Oktober 2016, Seite 32 f. – für Abonnenten hier nachlesbar) stellt Gérard Bökenkamp die Problematik der inländischen Flüchtlingskrise im Zusammenhang mit einem – wie er es nennt – säkularisierten Protestantismus dar. Sein Ansatzpunkt: Das Christentum, besonders der Protestantismus, hebt sehr stark auf den Schuldgedanken ab; so sehr, dass der Gedanke, an einem Missstand keine Schuld tragen zu können, als abwegig abgetan wird.
Schuldgefühle aus der Kindheit
Grundlagen dafür werden schon in der Kindheit gelegt, wenn den Kleinen das Aufessen am Mittagstisch mit dem Argument nahegelegt wird, in anderen Ländern verhungerten Kinder. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, aber ein solcher Schuldkomplex kann sich sehr tief in eine Seele graben, auch wenn die mit dem theologischen Begriff der Schuld gar nichts mehr anfangen kann.
Das setzt sich später dann darin fort, dass man die Verantwortung an einer Hungerkatastrophe in Afrika nicht nur in der westlichen Zivilisation sieht sondern auch sehr persönlich dem eigenen Lebensstil zuschreibt: Ginge es uns nicht so gut, ginge es denen nicht so schlecht. Auch hier: Kein wirklich messbarer Zusammenhang, lediglich Annahmen über Folgewirkungen eines früheren Kolonialismus oder ein Schwadronieren über mögliche negative Folgen der internationalisierten Märkte. Dass eine humanitäre Katastrophe auch mit einem zusammenbrechenden sozialistischen Wirtschaftssystem oder einer nationalen Kleptokratie zusammen hängen könnte, wird entweder gar nicht in Erwägung gezogen oder es wird ein solcher Umstand auf wiederum die geschichtliche Schuld des Nordens/Westens geschoben. Und da wir alle in diesen Zusammenhängen leben, gibt es kein Entrinnen: Man trägt als Westler Mitschuld am Elend überall in der Welt.
Schuld als säkulare Religion
Dass ein solcher Schuldkomplex zu einer Art Religion ausarten kann, ist durchaus nachvollziehbar. Gerade in einer weitgehend säkularisierten Welt sucht sich der Mensch – quasi als Ausgleich zu Gott – Leitplanken dessen, was gut ist und was nicht gut ist. Verknüpft mit einem latenten Sozialismus ist das Glaubensgebäude leicht aufgebaut: Persönlicher Wohlstand ist schlecht und verantwortlich für Armut anderswo. Gerechtigkeit – und Schuldlosigkeit – ist erst mit der vollkommenen Gleichheit aller Menschen erreicht. Man riecht beinahe die Leichen in den Gulags und KZs, die eine solche Weltsicht heraufbeschwört.
Aber liegt die Ursache dafür wirklich im Christentum, wie Bökenkamp es nahelegt? Oder nicht doch eher in einer Ablehnung des Christlichen und einer säkularen Umdeutung christlicher Werte, die – ihrer geistlichen Grundlage, Jesus Christus selbst, beraubt – pervertieren müssen?
Schuld, Schuldgefühl und Sünde
Der Vorwurf gilt in dem ef-Beitrag eher dem Protestantismus, aber auch – und im Mainstream vor allem – dem katholischen Glauben, wird nicht selten eine Schuld- und Sündenzentrierung unterstellt. Dieses Verständnis von Sünde und Schuld ist aber ein ganz anderes, als es die säkulare Welt nahelegt. In der Frage der Schuld oder einem Schuldgefühl kann man dabei unterscheiden zwischen einer realen Schuld aufgrund einer begangenen Sünde und einem eigentlich pathologischen Schuldgefühl, dem gar keine reale Schuld zugrunde liegt.
Dabei ist eine Sünde die bewusste Abwendung von Gott: Gott hat uns in Freiheit geschaffen, auch mit der Freiheit, ihn abzulehnen und anders zu handeln, als er es nahelegen würde. Ein ausgebildetes Gewissen antwortet auf eine solche begangene Sünde mit einem Schuldgefühl, dem aber durch Jesus Christus abgeholfen werden kann: Bekenntnis, Reue und der feste Vorsatz zur Besserung und/oder Wiedergutmachung im Rahmen einer Beichte vorausgesetzt, wird diese Schuld, die wir gegenüber Gott auf uns geladen haben, durch Christi Tod am Kreuz vergeben. Insofern ist gerade beim Christentum der Vorwurf der Schuldzentrierung unangebracht: Vergebungszentriert ist unser Glaube an Jesus Christus, was allerdings voraussetzt zu erkennen, dass man eine solche Vergebung auch nötig hat.
Sind wir wirklich an allem schuld?
Jede Sünde, so glauben wir als Christen, hat Konsequenzen – mindestens in unserem Verhältnis zu Gott, in den allermeisten Fällen aber auch im Umgang mit unseren Nächsten. Ein Großteil dessen, was wir als Sünden bezeichnen, spielt sich dabei auch im Miteinander ab: Wie gehe ich mit meinem Nächsten um? Kann ich in ihm Christus erkennen, der auf meine Hilfe wartet, auf Barmherzigkeit und Liebe? Und da die Sünde das Bewusstsein der Abwendung von Gott als Prämisse sieht, kann man auch nicht sündigen, ohne die Verantwortung zu tragen. Freilich kommt da hinzu, dass es auch eine Verantwortung zur Gewissensbildung gibt.
Wer sich also bewusst „dumm“ hält und lieber nicht wissen will, dass die schlechte Nachrede gegenüber meinem Nächsten eine Abwendung von Gott darstellt, der kann sich auf dieses Unwissen nur bedingt berufen. In jedem Fall steht aber das persönliche Handeln im Vordergrund: Ich habe gesündigt, ich habe dadurch Folgewirkungen verursacht, ich bereue und sehe mich in der Pflicht zur Wiedergutmachung und dazu, es beim nächsten mal besser zu machen.
Wenn umgekehrt heute jemand behauptet, als Deutsche seien wir Schuld am Holocaust, dann ist das in der Tat eine sehr säkulare Sichtweise, die mit dem Gedanken der Schuld im Christentum wenig zu tun hat. Wenn jemand behauptet, durch mein Leben in einem zivilisierten Land wie Deutschland würde ich schon Schuld auf mich laden, und für die könne ich „büßen“ durch die Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten in diesem Land, dann ist das nicht nur ein unzulässiger Kollektivismus sondern auch eine Pervertierung einer christlichen Vorstellung von Sünde und Schuld. Es gibt schlicht keinen direkten, in Einzelfällen vielleicht einen sehr indirekten Zusammenhang zwischen meinem persönlichen Wohlstand und der Armut und dem Krieg anderswo in der Welt – eine solche Vorstellung, dass ich mit meinem H&M-T-Shirt für das Erstarken des IS mitverantwortlich bin, ist nicht rational sondern eine sozialistisch-ideologische Idee.
Verantwortung und Verantwortungsübernahme
Etwas anderes dagegen ist das Thema Verantwortung: Die kann ich nämlich auch tragen, wenn ich keine Schuld auf mich geladen habe. Das beste Beispiel ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter: Der ist in keiner Weise für den Zustand des Mannes auf der Straße verantwortlich. Er übernimmt aber – nicht aus Schuld, nicht zur Sühne – die Verantwortung für den Verletzten. Heute würde man die Schriftgelehrten und Pharisäer, die einfach an dem Mann vorbeigehen, der unterlassenen Hilfeleistung anklagen – das ist aber eher ein Zeichen dafür, dass es in einer entchristlichten Welt mit Barmherzigkeit nicht allzu weit her sein kann.
Wenn also heute auf der Welt Menschen vor Verfolgung, Krieg oder Armut fliehen, dann sollte es Christenpflicht sein, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten Barmherzigkeit zu üben. Barmherzigkeit nicht zu üben, das ist nun im Umkehrschluss wieder eine Abwendung von Gott – in diesem Sinne aber so oder so eine sehr persönliche Entscheidung. Die Unterscheidung, ob jemand wirklich in Not ist, die Unterscheidung im Grad der persönlichen Verantwortung für das Leiden der anderen ist dann eine durchaus zulässige Überlegung. Insofern kann man mit der Entscheidung, nicht zu helfen, durchaus als Christ Schuld auf sich laden. Die Schuld besteht aber nicht in der Not des anderen sondern in meiner Ignoranz dem Leidenden gegenüber. Das ist der entscheidende Unterschied, den Bökenkamp bei seiner Verantwortungszuweisung an die Religion übersieht (ob bewusst bin ich allerdings nicht sicher).
Barmherzigkeit ist freiwillig
Dieser Unterschied ist auch deshalb wichtig, weil diese fehlende Schuld am Umstand der Fluchtbewegungen an sich und die christliche Selbstverpflichtung zur Barmherzigkeit einen wesentlichen Faktor einschließen, den ich eingangs erwähnt habe: Die Freiwilligkeit. Wer in einer säkularen Welt mit dem Konstrukt der Schuld arbeitet, der will eine Verpflichtung begründen und in der Politik festschreiben, die in dieser Form nicht besteht. Wer dagegen an die Barmherzigkeit appelliert, der setzt auf Einsicht, auf Entgegenkommen und auf eine freiwillige Selbstverpflichtung. Ich mag die Hoffnung nicht aufgeben, dass das der bessere Ansatz ist, der den wirklich Leidenden auch mehr hilft, als die Fremdverpflichtung, die in einem kollektivistischen Satz wie „Wir schaffen das!“ zum Ausdruck kommt.
Dieter Schrader
Wir- meine Frau und ich- danken Ihnen sehr für diese Ausführungen. Sie treffen den Kern der Dinge. Entweder wird man in eine “ rechte “ Ecke gestellt, oder es wird einem ein schlechtes Gewissen verpasst, wenn man nicht im “ Mainstream“
mitschwimmt.Wo wird eigentlich die schamlose Handhabung der Schlepperbanden angeprangert bzw. versucht zu unterbinden? Auch die Behauptung Fau M. hätte Fehler zugegeben vermag ich nach dem Studium des Interviews nicht zu erkennen. Auch der Satz“ man dürfe die Flüchlinge nicht unter Generalverdacht stellen“ ist eigentlich hohles Gerede. Wenn – wie eine Zeitung berichtete- 70 % der Flüchtlinge zwar ohne Pass aber mit einem Smartphone ausgerüstet seien- dann muß die Frage erlaubt sein- was läuft hier gerade ab?
Der Begriff „säkularer Protestantismus “ beschreibt sehr gut eine Argumentationslage, die den Bezug zum wahren christlichen Glauben verloren hat.
Lehrer Lämpel
Ist Barmherzigkeit wirklich, wie Sie hier schreiben, rein „freiwillig“?
Zumindest für Christen und Juden gilt dieses Freiwilligsein bzgl. der Barmherzigkeit bzw. Nächstenliebe nicht.
Christus stellt die Nächstenliebe nicht als Freiwilligkeit sondern als GEBOT dar und stellt sie dem Gebot der Gottesliebe gleich.
Wer der Nächste ist, geht aus Seiner Rede vom Weltgericht in Mt25 hervor, worin eben die dem „geringsten Bruder“ erwiesenen oder verweigerten Werke der Barmherzigkeit über die Seligkeit im Himmel oder eben die ewige Verdammnis entscheiden.
Die Werke der Nächstenliebe werden dabei so gewertet, als seien Sie Christus selbst erwiesen oder aber verweigert worden.
Nun könnte vielleicht jemand spitzfindig einwenden, bei den „geringsten Brüdern [und Schwestern]“ handle es sich nur um die eigenen Glaubensgenossen.
Dem widerspricht aber der Herr selbst in Mt 12, 49-50:
Wer den Willen Gottvaters erfüllt, gilt da Christus wie ein leiblicher Verwandter: Bruder, Schwester, Mutter.
Der „Wille Gottes“ ist vom Herrn selbst ausgedrückt im Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe.
Letztere bezieht sich, wie im Gleichnis vom barmherzigen Samariter ebenfalls vom Herrn selbst(!) dargelegt, keineswegs allein auf „Volks- oder Glaubensgenossen“, sondern auf jeden Menschen, der nach dem göttlichen Doppelgebot lebt – auch, wenn es sich dabei um einen Nichtchristen handelt.
Da wir hilfsbedürftigen Menschen in der Regel nicht auf der Stirn ablesen können, ob sie diese göttlichen Gebote erfüllen, tun wir gut daran, unsererseits keinem von ihnen Barmherzigkeit vorzuenthalten und so etwa dem Gericht zu verfallen.
Denn der allgemein gültige Rechtsgrundsatz „Unwissenheit (hier: über die innere Verfasstheit eines Hilfsbedürftigen) schützt nicht vor [göttlicher] Strafe“ gilt doch wohl auch hier, oder?
Wafthrudnir
Ich glaube, mit „freiwillig“ war in dem Artikel etwas anderes gemeint, nämlich die Abwesenheit von Zwang. Christliche Nächstenliebe ist in diesem Sinn sehr wohl völlig freiwillig, denn Gott wird mich nicht daran hindern, lieblos zu leben, auch wenn ich mich damit vielleicht in die Hölle befördere.
Aber eine nicht-freiwillige Nächstenliebe, z.B. wenn meine zwangsweise eingezogenen Steuern für einen guten Zweck verwendet werden, wäre ganz wertlos.
Lehrer Lämpel
Ich halte entrichtete und einbehaltene Steuern nicht für „wertlos in Bezug auf geübte Nächstenliebe“:
Z.B. ist die Kirchensteuer in gewisser Weise eine freiwillige Steuer, derer man sich hierzulande z.B. durch Kirchenaustritt entziehen kann.
Bei den staatlichen Steuern gibt es immerhin die Möglichkeit von Tricksereien sowie echter krimineller Steuerhinterziehung, deren sich natürlich ein Christ enthalten soll:
Einmal weil das Diebstahl an der Volksgemeinschaft ist und damit gegen das 7. Gebot verstößt sowie der Weisung des Herrn, dem „Kaiser [=Staat] zu geben, was dessen ist.“
Zum anderen, weil auch der Staat mit den Steuern viel Gutes tut für bedürftige Mitbürger, die andernfalls uns um Almosen betteln müssten.
Also sind auch ehrlich entrichtete Steuern zumindest zu einem gewissen Teil ein Akt von indirekter Nächstenliebe an unseren Mitmenschen.
Ein Christ darf das durchaus selbstbewusst auf der „Habenseite“ verbuchen, wenn er in dieser Beziehung ehrlich ist und etwaigen Versuchungen widersteht.
Sonntagsschau (16/10) • Löwenblog
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