Derzeit beschäftige ich mich beruflich mit dem Datenschutz in Unternehmen. Die Regierungen und Behörden nehmen das Thema bei sich allerdings nicht so genau.
Haben Sie zufällig gelesen, wer in diesem Jahr den Wirtschaftsnobelpreis bekommen hat? Der Mann heißt Richard H. Thaler und ist Spezialist auf dem Gebiet der sogenannten „Verhaltensökonomie“. Was das ist, hat Per Stromberg, Vorsitzender des Nobelpreiskomitees, recht gut in der Begründung wiedergegeben: „Richard Thaler ist ein Pionier, wenn es darum geht, Erkenntnisse aus der Psychologie in die ökonomische Analyse einzubauen. Für vier Jahrzehnte hat er sowohl Theorien und Modelle wie auch Experimente, Tests und Umfragen verwendet, um zu analysieren, wie spezifische Aspekte der Psychologie systematisch wirtschaftliche Entscheidungen beeinflussen.“
Rationales und irrationales Verhalten
Als Forschungszweig ist das erst mal interessant; für jedes Wirtschaftssubjekt gibt es die Notwendigkeit, Unsicherheiten soweit möglich – im Verhältnis zum Aufwand und zur eigenen Risikoneigung – zu reduzieren. Da ist es gut, recht genau prognostizieren zu können, wie sich Kunden, Dienstleister oder Wettbewerber in bestimmten Situationen verhalten. Thaler hat dabei nicht nur bestimmte Muster aufgedeckt sondern auch dokumentiert, was viele schon immer ahnten: Der Mensch verhält sich nicht immer rational, nicht mal immer zu seinem objektiven Besten. Auf diese Irrationalität Einfluss zu nehmen bzw. die entsprechenden Mechanismen zu kennen, ist daher mindestens von wissenschaftlichem Interesse, auch im Interesse von Unternehmen, letztlich sollte es auch im Interesse jedes Einzelnen sein, damit man nicht dem Trugschluss aufsitzt, man handle rational.
Wenn Ihnen das irgendwie bekannt vorkommen sollte, dann haben Sie vielleicht schon mal was über ein Buch und seinen prägnanten „Marketing-Titel“ gelesen, das Thaler zusammen mit seinem Kollegen Cass R. Sunstein geschrieben hat: „Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt“. Für den ersten Schritt reicht es vielleicht, den Klappentext zu lesen, um die Tragweite zu erkennen: „Nudge – so heißt die Formel, mit der man andere dazu bewegt, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Denn Menschen verhalten sich von Natur aus nicht rational. Nur mit einer Portion List können sie dazu gebracht werden, vernünftig zu handeln. Aber wie schafft man das, ohne sie zu bevormunden? Wie erreicht man zum Beispiel, dass sie sich um ihre Altersvorsorge kümmern, umweltbewusst leben oder sich gesund ernähren? Darauf gibt Nudge die Antwort.“
Von Toilettenhygiene zum politischen Wohlverhalten
Prägnantes und immer wieder genanntes Beispiel sind die eingebrannten Fliegen in Männer-Urinalen, die die Verschmutzung in öffentlichen Toiletten reduzieren sollen. Männer könnten auch ohne solchen Schnickschnack „zielen“, aber mit diesen Fliegenbildern (oder eingebauten kleinen Fußballtoren) macht es einfach mehr Spaß!
Wen wundert’s, dass auf ein solches Thema nicht nur die Wirtschaft sondern auch die Politik anspringt. Längst lassen sich Regierungen – auch die deutsche – von „Nudging-Experten“ beraten, um herauszufinden, wie sie denn „das Volk“ zu – aus ihrer Sicht – rationalem Verhalten animieren können. Beispiele dafür sind die oben bereits angesprochene Altersvorsorge, aber auch sehr persönliche Dinge wie das Gesundheitsverhalten. Kritisch daran ist nicht die erwünschte Verhaltensänderung an sich sondern die dabei eingesetzten psychologischen Mittel, die einen Menschen dazu bringen, etwas zu tun, was er eigentlich gar nicht tun will, ohne dass er es selbst merkt. Die im Klappentext benutzte Formulierung „List“ ist hier sehr passend. Nudging wird auch als „sanfter Paternalismus“ bezeichnet: „Sanft“, weil die Entscheidung für ein bestimmtes Verhalten formal immer noch frei ist, kein direkter Zwang angewandt wird, „Paternalismus“ aber auch, weil die Politik sich anmaßt zu entscheiden, was für das Volk gut ist. Heute Riester, morgen Rürup, übermorgen Nichtrauchen … und demnächst (oder schon gestern) der „Kampf gegen rechts“ oder die freudige Aufnahme anderer Kulturen? Wer kann schon genau sagen, wo gezieltes Nudging eingesetzt wird, wenn ein breiter öffentlicher Konsens in einer an sich sehr differenziert zu beantwortenden Frage Raum greift?
Informationelle Selbstbestimmung
Was man aber als Nudger (von englisch nudge – schubsen) benötigt, sind die relevanten Hintergrundinformationen. Wenn ich weiß, dass jemand unter bestimmten Rahmenbedingungen auf einen Schubs in einer bestimmten Weise reagiert, dann interessieren mich unweigerlich diese Rahmenbedingungen: Bisheriges Verhalten, wirtschaftliche Verhältnisse, gesellschaftliches Engagement, religiöse Überzeugungen, Freundschaften … Es gibt kaum etwas, was völlig uninteressant wäre, wenn man das Verhalten eines Menschen vorherbestimmen und beeinflussen will.
Aus diesem Grund gibt es einschlägige gesetzliche Regelungen zum Datenschutz, so zum Beispiel die ab Mai 2018 Geltung entfaltende Europäische Datenschutzgrundverordnung. Mit dieser Regelung, so die Begründung, soll das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Menschen erhalten bleiben. Grundaussage: Die Verarbeitung personenbezogener Daten ist verboten, wenn es nicht Rechtsgrundlagen gibt – wie eine Einwilligung oder eine rechtliche Verpflichtung – die sie explizit erlauben. Damit soll Unternehmen der Weg zu einer Verhaltensvorhersage und –beeinflussung versperrt werden; übrigens auch dann, wenn es dem Einzelnen gar nichts ausmacht. Die DSGVO macht dagegen für Behörden weitreichende Ausnahmen – sich selbst möchte man lieber nicht auf die Finger klopfen lassen!
Wer hat schon nichts zu verbergen?
Dazu kommen aus der Vergangenheit immer wieder neue Ansätze, sich Informationen über den Bürger zu beschaffen – alles im Namen einer als „Supergrundrecht“ deklarierten Sicherheit. Auf einer Internetseite, die sich intensiv mit Datenschutzanforderungen beschäftigt, findet man dazu eine ganze Reihe von Beispielen, eingerahmt in einen kleinen Rant, der darauf hinweist, dass die Datensammelwut des Staates nicht durch die Pauschalformulierung „Wer nichts zu verbergen hat, der hat nichts zu befürchten“ zu legitimieren ist. Autorin Ann-Karina Wrede macht ihrem Unmut vor allem vor dem Hintergrund Luft, dass man eben nicht absehen kann, ob sich ein Staat oder eine Regierung morgen noch an die selbst gesetzten Rahmenbedingungen halten wird, ich also heute schon wissen kann, ob ich morgen meiner Regierung gegenüber etwas zu verbergen habe. Kurzes und treffendes Zitat: „Das Argument „Nichts zu verbergen“ funktioniert nur solange wie die Regierung, Ihr Umfeld und Sie, dieselben Werte und moralischen Vorstellungen teilen.“
Aber auch ohne dass sich ein Rechtsstaat in einen Unrechtsstaat wandelt, kann man vor dem Hintergrund der psychologischen Einflussnahme Bedenken gegen die Datensammlungen und informationellen Einflussnahmen des Staates haben. Dann nämlich, wenn eine Regierung sich im Sinne eines – womöglich sogar gut gemeinten – Paternalismus anschickt, mich mit einer „List“ zu gewünschtem Verhalten zu bringen. Kann schon sein, dass es aus Sicherheitsaspekten gut wäre zu wissen, wer so alles welcher islamischen Religionsspielart angehört – aber ist es generell gut, wenn der Staat über die religiösen Überzeugungen seiner Bürger Bescheid weiß? Kann schon sein, dass Rauchen ungesund ist, aber ist es deshalb richtig, über subkutane Maßnahmen auf das Verhalten von Rauchern Einfluss zu nehmen und dazu die von ihm bekannten Informationen zu nutzen? Oder anders gefragt: Heiligt der Zweck die Mittel? Diese rhetorische Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten – weil man den Zweck eben nicht kennt und die Antwort je Zweck auch persönlich sehr unterschiedlich ausfallen kann.
Falsche Prioritäten
Ich selbst gehe mit meinen Informationen in den sozialen Medien relativ freigiebig um und bin mir darüber im Klaren, dass ich auf Google-News oder in den Anzeigen bei Facebook gefilterte Informationen bekomme. Ich sehe auf Internetseiten personalisierte Werbung und kann notfalls damit spielen (zum Beispiel indem ich bewusst uninteressante Werbung anklicke, dann kann ich sichergehen, in Zukunft die Werbung links liegen lassen zu können). Ich weiß, dass jemand, der diesen Blog und meine Beiträge in anderen Medien liest, sich ein recht genaues Bild von mir machen kann. Das ist ein Preis den ich für die mediale Verbreitung meiner Meinung zahle. Wenn Unternehmen das nutzen – bitte sehr! Dass der Gesetzgeber aber gerade im privatwirtschaftlichen Bereich jede Menge Riegel vor so etwas schiebt, sich selbst aber davon ausnimmt, ist in höchstem Maße beunruhigend. Umgekehrt würde in einer freiheitlichen Gesellschaft ein Schuh draus.
Kirchfahrter Archangelus
Genau so ist es. „Nudging“ ist längst auch im Bereich der Wahlbeteilungung feststellbar (https://kirchfahrter.wordpress.com/2016/03/05/wir-gehen-waehlen-oder-sag-mir-wo-du-stehst/) oder bei der Rollenbesetzung in Film- und Fernsehproduktionen (https://kirchfahrter.wordpress.com/2017/03/01/kulturelle-hegemonie-und-mediale-beeinflussung/), man bekommt vermehrt „sanft vermittelt“, was man am besten zu tun und vor allem zu lassen hat.
Stefan S.
Im letzten Jahrhundert hat man eben die Erfahrung gemacht, dass Totalitarismus, welcher Farbe auch immer, sich nicht so offen auf Dauer implementieren lässt.
Deshalb entscheidet man sich jetzt für eine etwas dezentere Lösung. In einigen Generationen ist man dann am Ziel.
Achtung! Könnte Portionen von Sarkasmus enthalten!