Alternative Fakten gibt es tatsächlich. Und genau darum ist der Begriff auch kein Unwort, seine Wahl dazu ein Akt mangelnden Verständnisses von Fakten.
Nun also „Alternative Fakten“. Nachdem es im vergangenen Jahr der Begriff des „Volksverräters“ war und im Jahr zuvor der „Gutmensch“, davor (2014) „Lügenpresse“ und (2013) „Sozialtourismus“ hat sich eine – laut FAZ – „unabhängige Jury aus Sprachwissenschaftlern und einem Publizisten“ wieder für ein Wort als „Unwort des Jahres“ entschieden, dass nicht nur aus der politischen Diskussion stammt sondern dort insbesondere aus der Auseinandersetzung der politisch rechten und linken Lager (diese Vereinfachung bitte ich zu entschuldigen, aber ich denke, es ist klar, was ich meine). Zum „Gutmenschen“ hatte ich vor zwei Jahren bereits einen Beitrag geschrieben und meinen Unmut über die Intention dieses „Preises“ kundgetan. Unwörter – also „Nicht-Wörter“ – gibt es ohnehin nicht (wenn man mal von der Diskussion über den „Schwanzhund“ im Film Ödipussi“ absieht), aber auch die Diffamierung eines Begriffs, den man nach Ansicht der Jury nicht nutzen sollte, ist eine Vorstufe autoritärer Akte der Einschränkung der Meinungsfreiheit.
Alternative Fakten
Neutral formuliert es der Initiator des „Unwortes“ so, dass damit der Blick auf Wörter und Formulierungen gelenkt werden solle, „die gegen sachliche Angemessenheit oder Humanität verstoßen“ und dadurch die Sprachsensibilität in der Bevölkerung fördern. Vor diesem Hintergrund ist aber die Begründung der Jury lesenswert:
Die Bezeichnung „alternative Fakten“ ist der verschleiernde und irreführende Ausdruck für den Versuch, Falschbehauptungen als legitimes Mittel der öffentlichen Auseinandersetzung salonfähig zu machen. Zwar ist der Ausdruck nur aus dem US-amerikanischen Kontext und dort nur aus einem einzelnen Redebeitrag belegt: Die Trump-Beraterin Kellyanne Conway bezeichnete die falsche Tatsachenbehauptung, zur Amtseinführung des Präsidenten seien so viele Feiernde auf der Straße gewesen wie nie zuvor bei entsprechender Gelegenheit, als „alternative Fakten“. Der Ausdruck ist seitdem aber auch in Deutschland zum Synonym und Sinnbild für eine der besorgniserregendsten Tendenzen im öffentlichen Sprachgebrauch, vor allem auch in den sozialen Medien, geworden: „Alternative Fakten“ steht für die sich ausbreitende Praxis, den Austausch von Argumenten auf Faktenbasis durch nicht belegbare Behauptungen zu ersetzen, die dann mit einer Bezeichnung wie „alternative Fakten“ als legitim gekennzeichnet werden. Mit der Wahl dieser Wortverbindung zum Unwort des Jahres 2017 schließen wir uns daher den kritischen Stimmen in Deutschland an, die durch den im Deutschen fast ausschließlich distanzierenden Gebrauch des Ausdrucks warnend auf diese Tendenzen in der öffentlichen Kommunikation hinweisen. Der Ausdruck wurde 65-mal eingeschickt.
Die Absicht eines Begriffs
Wie schon beim „Gutmenschen“ argumentiert die Jury nämlich in einer ganz anderen Richtung, als der Begriff an sich verstanden werden müsste. Wie die Beraterin Präsident Trumps den Begriff gesehen haben mag, entzieht sich meiner Kenntnis, allerdings wird er seither entweder in abwertender Absicht verwendet („Jaja, alternative Fakten, was?!“) oder ernsthaft dann bemüht, wenn ein Faktum durchaus in unterschiedlicher Weise zu werten sein kann.
„Flüchtlinge entlasten gesetzliche Krankenversicherung“
Zum Glück eilt da ein sehr aktuelles Beispiel herbei. Man kann nämlich – so wird berichtet – faktisch richtig sagen, dass in Deutschland lebende Flüchtlinge (dabei wird vermutlich nicht zwischen Asylanten, Migranten, subsidiär Geschützten etc. unterschieden … sei’s drum) die Krankenkassen entlasten! „Hurra“, ruft da der Gutmensch, „es lohnt sich also doch, sie alle rein zu lassen!“ Begründet wird die Schlagzeile durch die Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, Doris Pfeiffer, wie folgt:
„Da die zugewanderten Neumitglieder jünger sind als der Durchschnitt aller gesetzlich Versicherten und darüber hinaus auch noch weniger Leistungen in Anspruch nehmen als die gleichaltrigen bisherigen Versicherten, führen sie zu einem doppelten Entlastungseffekt.“ Sie stabilisierten die Finanzen und stoppten – zumindest vorübergehend – die Alterung der Mitglieder der GKV insgesamt. „Das ist ein erstaunliches Phänomen, mit dem noch vor einigen Jahren wohl niemand gerechnet hätte“, so Pfeiffer.
(Quelle: n-tv)
Mit einem solchen positiven Effekt hatte wohl in der Tat niemand gerechnet, wobei die Argumentation durchaus einsichtig ist: Wer jünger ist wird im Schnitt weniger krank, und entlastet damit ein Solidarsystem, das für Junge wie Alte die gleichen Leistungen bereitstellt.
„Flüchtlinge belasten das Gesundheitssystem!“
Gleichzeitig kann man aber ebenfalls behaupten: „Flüchtlinge belasten das Gesundheitssystem!“ Nanu, wie das? Ein kleiner, aber immerhin bei n-tv nicht verschwiegener Aspekt kommt hier zum Tragen: „Das Geld kommt vom Bund.“ Die weitaus überwiegende Zahl der Betroffenen verfügt nämlich über kein eigenes Einkommen; deren Beiträge werden dann „von den Behörden“ übernommen. Das Geld, das die Krankenkassen da entlastet, kommt also vom Staat oder – Sie ahnen es – von den Steuerzahlern als erweiterte Solidargemeinschaft des Gesundheitswesens. Interessant übrigens, dass dieser Zusammenhang in manchen Medien (wie zum Beispiel im Branchenmagazin Ärzteblatt) zu erwähnen „vergessen“ wurde.
Beide Schlagzeilen – „Flüchtlinge entlasten gesetzliche Krankenversicherung“ und „Flüchtlinge belasten Gesundheitssystem“ sind also durchaus richtig, wobei die erstere einen nicht ganz unwichtigen Aspekt unberücksichtigt lässt – gelogen ist sie deshalb noch nicht. Alternative Fakten!
Intention und Wirklichkeit
Interessant ist das Beispiel auch deshalb, weil das „Unwort“ auch in diesem Jahr wieder mit einer eindeutigen Stoßrichtung gegen angeblich „rechte“ Fakenews prämiert wurde, während hier ein alternatives Faktum gerade nicht aus der rechten Ecke lanciert wurde. Alternative Fakten – auch wenn man sie dort ungern so nennen würde – sind also recht unabhängig von der politischen Herkunft und – positiv beschrieben – eher eine Frage der Perspektive denn der Objektivität. Mit einem Begriff wie „alternative Fakten“ kann man also mithin deutlich machen, dass es tatsächlich zu den meisten Ereignissen eine „Wahrheit“ gibt, die auch erkennbar und jede Theorie dazu also falsifizierbar ist. Die ganze Wahrheit und insbesondere die Bewertung dieser Wahrheit ist aber dennoch oft eine Frage des Kontextes.
Wenn man also mal davon absieht, dass es ganz objektiv kein Unwort gibt, die Prämierung eines Unwortes auch grundsätzlich dem „Handbuch des kleinen Diktators“ entspringt und hier konkret von einer völlig falschen Definition dieses Unwortes ausgegangen wird, so stellt sich hier heraus, dass man auch noch ein Wort in den Senkel stellt, das eigentlich eine hohe Nützlichkeit aufweisen könnte.
„Babycaust“
Die Initiative „Unwort“, für die das Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft der Technischen Universität Darmstadt verantwortlich zeichnet, weist übrigens als Kriterien für ein Unwort aus, dass diese „gegen das Prinzip der Menschenwürde verstoßen“, „gegen Prinzipien der Demokratie verstoßen“, „einzelne gesellschaftliche Gruppen diskriminieren“ oder „euphemistisch, verschleiernd oder gar irreführend sind“. Fälschlicherweise bezieht man sich bei den „Alternativen Fakten“ wohl auf den letzten Aspekt. Da der aber schon nicht stimmig gewählt ist, fragt man sich, warum eigentlich der mit einem deutlichen Abstand von 122 zu 65 Nennungen eingebrachte Begriff des „Babycaust“ nicht zum Unwort des Jahres gekürt wurde, mit dem der Skandal der stabil bei einer Zahl von rund 100.000 pro Jahr vorgenommenen Abtreibungen gebrandmarkt wird. Der passt in der Tat auch nicht in das Bewertungsraster, hätte mit einer Wahl aber ein Thema in die Schlagzeilen gebracht, das dort wirklich hingehört.
Gero
Wer sich mal die Truppe ansieht, die da „offiziell“ eine angebliche Wahl veranstaltet, wird schnell sehen, das man es da mit linken und linksextremen Personen zu tun hat, die aus ihrer ideologischen Verblendung vor allem eins tun wollen:
Dem Normalbürger das Vokabular für seinen Protest gegen die herrschende Politik zu entziehen.
Es sind genau diese Worte „Lügenpresse“, „Gutmensch“ und „Volksverräter“, die der Lügenpresse, den Gutmenschen und Volksverrätern entgegenschlagen, wenn sie sich in der Öffentlichkeit zeigen.
Da tut es weh und da sollte der geneigte Bürger ansetzen und diese Wahl als Empfehlung verstehen, mit welchen Verbalitäten man den größten Hebel in der Hand hält.
Für mich sind diese Worte gerade durch ihre angebliche Wahl dieser Ideologen als Kampfbegriffe geadelt.
Sorgen wir also dafür, das der Schuß nach hinten losgeht und gebrauchen sie kräftig und ohne Unterlass.
Die Sache mit den Flüchtlingen und der Entlastung der Krankenversicherung haben meine Frau und ich auch sofort bemerkt.
Eine Frechheit, wie offensichtlich man uns dabei ins Gesicht lügt.
Denn das….
„Beide Schlagzeilen – „Flüchtlinge entlasten gesetzliche Krankenversicherung“ und „Flüchtlinge belasten Gesundheitssystem“ sind also durchaus richtig, wobei die erstere einen nicht ganz unwichtigen Aspekt unberücksichtigt lässt – gelogen ist sie deshalb noch nicht.“
…..sehe ich nicht so.
Gemäß der Redewendung, daß die halbe Wahrheit eine ganze Lüge ist, ist die darin getätigte Aussage mit Absicht auf eine ganz bestimmte Art und Richtung irreführend.
Mich wundert nur, daß solche Sachen so dilettantisch und überhaupt nicht mehr subtil angestellt werden.
Ist der Berufsstand „Mainstreamjournalist“ intellektuell wirklich am Ende?
Oder hat die „Speerspitze der Demokratie“ tatsächlich nur in den feuchten Träumen von Nachkriegs-Lohnschreibern stattgefunden?
Hakt man da nämlich nach, kommt, von Apotheken-Rundschau bis zur FAZ einzig der Vorfall um den Spiegel im Jahr 1962(!) als Begründung für dieses gern genommene Attribut zur Sprache.
EIN Vorfall, der genausogut als Ausrutscher weniger Journalisten in EINEM Artikel dieses Magazins gewertet werden könnte, als Legitimation für den Allmachtsanspruch der vierten Gewalt?
Und all den üblen Sermon, der seither durch die Federn geflossen ist?
Für wie blöde halten die uns eigentlich?
Simperl Siegfried
Die Jury besteht aus vier Sprachwissenschaftler und einem Journalisten, die Sprachkritik auch außerhalb der Universität für relevant halten. Die Jury wird im jährlichen Wechsel durch ein weiteres sprachinteressiertes Mitglied aus dem Bereich des öffentlichen Kultur- und Medienbetriebes ergänzt. Sie arbeitet institutionell unabhängig, d.h. ist weder an einzelne Universitäten, Sprachgesellschaften/-vereine oder Verlage gebunden.
Die Jurymitglieder beteiligen sich ehrenamtlich und aus Interesse und verstehen sich als Vermittler öffentlichen Unbehagens an bestimmten Sprachgebrauchsweisen, nicht aber – ein häufiges Missverstehen – als „Sprachschützer“.
Die sprachkritische Aktion basiert auf dem Interesse und auf der Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger. Jede und jeder kann zum 31.12. eines jeden Jahres schriftlich Unwortvorschläge an die Jury einreichen (bitte mit kurzer Begründung und Quellenangaben!). Die Jury „kreiert“ also keine Unwörter,
sondern wählt nach gemeinsamer Diskussion begründet aus den aktuellen Einsendungen aus.
Gero
Zwei Fragen:
Haben sie die von Ihnen angeführten Sprachwissenschaftler mal in persona gegoogelt?
Also Herkunft und ihre politische Zugehörigkeit sowie die der sie ausbildenden oder alimentierenden Universitäten und/oder Stiftungen.
Was denken Sie über das Zusammentreffen der Wörter „Gutmensch“, „Lügenpresse“ und „Volksverräter“ in abfolgender Reihe?
Welches politische Spektrum würde selbst eine solche Wahl vorschlagen?
Sie können wählen zwischen
1.)“links“
2.) „Mitte“
3.) „rechts“
Wobei wir 1.) und 3.) jeweils mit 25% der Bevölkerung, 2.) aber mit 50% wichten wollen.
Wenn Sie jetzt ehrlich zu sich selbst sind, sehen Sie, was da für eine Nummer abläuft.
Und die Frage, die ich jetzt noch an mich selbst stelle, ist, wieso ICH so was hier schreiben muß, statt eine realistische Einschätzung zu diesem Mummenschanz in den üblichen Printmedien lesen zu können.
Die da sollten das gelernt haben und werden schließlich dafür bezahlt.
Aber sowas kommt von sowas.
http://meedia.de/2018/01/16/miserable-woche-fuer-die-drei-grossen-wochenmagazine-nur-352-794-kiosk-kaeufer-minusrekord/
Wer mit den Wölfen heult, wird irgendwann vom Jäger erschossen.
Gero
Jetzt sinds bei mir doch drei Fragen geworden….
LePenseur
Cher Gero,
Ihre exzellenten Kommentare zu diesem Artikel sind zu schade, um mit dem Kommentarthread im Orkus des Blogarchives zu versinken.
Darf ich sie daher als „Gastkommentar von Gero“ auf dem LePenseur-Blog – in einen Textblock zusammengefaßt – bringen?
Mit bestem Dank im Voraus!
LePenseur
Gero
Nichts dagegen,
solange meine Entgegnungen nicht aus dem Zusammenhang gerissen und in Verbindung mit meinem, zugegebenerweise doch recht unverbindlichen Nick, gegen meine eigene Überzeugungen eingesetzt werden.
Ich hatte übrigens auch schon die Gelegenheit, bei Fragolins Weltsicht präsent sein zu dürfen.