„Anti-Abschiebe-Industrie“ ist nach Meinung einer kleinen Jury Unwort des Jahres 2018 weil es die Regeln des Sagbaren verschoben habe. Was für eine undemokratische Begründung.
Kein Zweifel, bei der Jury zum Unwort des Jahres handelt es sich wohl um eine ganz bestimmte Spezies verhinderter Autokraten, die ihre mangelnde gesellschaftliche Relevanz alljährlich durch die Verleihung ihres „Unwortes des Jahres“ sprengen. Man könnte nun meinen: Besser, sie machen das, als das sie auf der Straße rumlungern. Ich meine allerdings: Nicht viel besser, wenn überhaupt! Darum hatte ich auch zum Thema Unwort des Jahres bereits 2016 und – etwas spezifischer zum letztjährigen „Alternative Fakten – 2018 etwas geschrieben.
„Anti-Abschiebe-Industrie“
In diesem Jahr ist es also – vermutlich sind Ihnen die aufgeregten „Breaking News“ der medialen Unterstützer der Anti-Abschiebe-Industrie nicht entgangen – das Wort „Anti-Abschiebe-Industrie“, über das der Bannstrahl der Sprachwissenschaftler niedergegangen ist. Nun halte ich den Begriff selbst für einigermaßen unglücklich, nicht weil ich die Intention des Wortschöpfers Alexander Dobrindt an sich für falsch hielte, sondern weil sich die Kritiker dieser „Industrie“ damit selbst ein Ei ins Netzt gelegt haben, dass sie nicht wieder loswerden.
Denn insoweit man damit beispielsweise Rechtsanwälte und Lobbygruppen bezeichnet, die auf die Einhaltung der schrägen deutschen Rechtslage pochen, kann man die ja kritisieren. Als Politiker aber das Einfordern von gesetzlich garantierten Rechten in den Senkel zu stellen, hat aber ein G’schmäckle. Es ist aber mal wieder die Begründung zur Wahl genau dieses Wortes, die aufhorchen lässt (http://www.unwortdesjahres.net/fileadmin/unwort/Pressemitteilungen/pressemitteilung_unwort2018.pdf). Neben einer meinungsbildenden Kritik an der Wortschöpfung selbst entlarvt sich nämlich die Jury mit folgender Formulierung:
Veränderung von Sagbarkeitsregeln?
Als das Unwort 2018 gilt es uns, weil die Tatsache, dass ein solcher Ausdruck von einem wichtigen Politiker einer Regierungspartei prominent im Diskurs platziert wird, zeigt, wie sich der politische Diskurs sprachlich und in der Sache nach rechts verschoben hat und sich damit auch die Sagbarkeitsregeln in unserer Demokratie in bedenklicher Weise verändern.
(Kursivschrift im Original, Fettschrift von mir)
Hoppla, da haben wir mal wieder die fröhliche Auferstehung von „1984“: Es gibt also laut Unwort-Jury – oder sollte es nach ihrer Ansicht geben – „Sagbarkeitsregeln“, gegen die der von Herrn Dobrindt genutzte Begriff verstößt. Dabei ist eigentlich nicht zu bestreiten, dass es eine Rechtsprechung zur Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern (und Migranten) gibt. Es ist auch nicht abzustreiten, dass es Lobbygruppen gibt, die sich gegen solche Abschiebungen einsetzen – im Rahmen der gesetzlichen Regelungen durchaus legitim, dann aber auch durch den Versuch der Verhinderung rechtsstaatlich fundierter Abschiebungen einerseits und durch den Versuch, die Rechtsprechung und Rechtslage hin zu einer Erschwerung von Abschiebungen zu verschieben, andererseits.
Meinung
Ob es sich dabei um eine „Industrie“ handelt, darüber kann man streiten (sicher nicht im landläufigen Sinne von Industrie), aber das stellt eine Meinungsäußerung dar. So sieht man im Rahmen der Industrialisierung tatsächlich eine Arbeitsteilung vor. So etwas Ähnliches gibt es auch bei der entsprechenden Lobby: Juristischer Kampf, mediale Begleitung, spontane Aktionen an Flughäfen und Grenzen, politische Einflussnahme durch Politiker insbesondere von Grünen und Linken.
Das alles kommt für mich in dem Begriff „Anti-Abschiebe-Industrie“ zum Ausdruck, den ich deshalb nicht für glücklicher halte, als ich es oben bereits beschrieben habe, auch nicht überschneidungsfrei zur sonstigen Begründung der Unwort-Jury. Aber es ist eben eine prägnante Meinungsformulierung, und die obige Einschätzung, um wen und was es bei der Wortschöpfung geht, gehört ganz sicher zum legitimen Meinungsspektrum dieses Landes. Dem Wort so etwas wie einen „Unsagbarkeitsstempel“ aufdrücken zu wollen, ist daher – perfide, wie sich die Jury selbst auf diese Grundlage zu stützen versucht – in höchstem Maße undemokratisch (jedenfalls in dem Sinne, in dem es Meinungsäußerungen eines nicht geringen Teils der Bevölkerung faktisch untersagen möchte).
Sagbar und unsagbar – undemokratisch
Der Vorwurf also, Dobrindt hätte mit dem Begriff der „Anti-Abschiebe-Industrie“ (den ich nach einem kurzen medialen Strohfeuer auch lange nicht mehr gehört habe) die „Sagbarkeitsregeln in unserer Demokratie“ verändert, fällt auf die Jury selbst zurück. Dort nämlich wird versucht, Sagbarkeitsregeln aufzustellen, mithin zu unterscheiden zwischen „sagbar“ und „unsagbar“, wobei das von ihnen gewählte Unwort nach ihrer Auffassung zu den „unsagbaren“ gehört. Ich will es ja nicht zu hoch aufhängen, aber hat sich mal jemand Gedanken gemacht, die Unwort-Jury vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen, weil sie sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik wenden?
Gesellschaftlicher Konsens
Noch ein kurzer Ausflug: Gibt es in Deutschland „Unsagbares“ oder sollte es das geben? Es existieren tatsächlich einschlägige gesetzliche Regelungen beispielsweise zur Beleidigung von Menschen oder auch zur Holocaust-Leugnung. Diese „Unsagbarkeitsregeln“ können sich aber immerhin auf einen generellen Wertekonsens im – Obacht Herr Kardinal – christlichen Abendland stützen, auch wenn die Detailinterpretation immer auch mal strittig ist.
Ich persönlich hielte viel davon, solche Regelungen weitgehend abzuschaffen, aber in der Tat kann man sich überlegen, inwieweit Beleidigungen „unsagbar“ – bzw. untersagt – sein sollten, wenn sie die Würde eines Menschen beeinträchtigen (und damit über das Maß von Freiheit hinausgehen, deren Nutzung die Freiheit der Betroffenen einschränken) und inwieweit es angesichts der deutschen Geschichte richtig ist, unsinnige Behauptungen zum dritten Reich unter Strafe zu stellen.
Unsagbarkeit = Unfreiheit
Der beschriebene vernünftige gesellschaftliche Konsens ist aber überschritten, wenn die Grenze des Sagbaren diesseits der freien Meinungsbildung, ohne Beeinträchtigung der Menschenwürde der so Bezeichneten, gezogen wird. Solche Sagbarkeitsregeln gehören – ich wiederhole mich da aus dem oben verlinkten Beitrag – ins Handbuch des kleinen Diktators, aber nicht in die gesellschaftliche Diskussion eines so strittigen Themas wie Flüchtlingspolitik oder Migration. Daher, auch wenn es dabei notwendigerweise „brrrrrrz“ in meinem Hirn macht: „Sagbarkeitsregeln“ ist für mich schon jetzt das Unwort des Jahres 2019.
Alexander Scheidweiler
Eine gute Analyse, jedoch sollte man noch einen Aspekt nicht übersehen: Gesetze gegen Beleidigung oder Holocaust-Leugnung (Volksverhetzung) etc. sind Teil des Strafgesetzbuches. Es handelt sich also um wirkliche Gesetze, die a) für jedermann nachlesbar sind, die b) von einem demokratisch legitimierten Parlament, dem Bundestag, beschlossen wurden und von diesem auch wieder abgeändert oder abgeschafft werden könnten (womit ich nicht gesagt haben will, daß ich das befürworten würde, sondern es nur feststelle) und c) deren Durchsetzung von auf die Verfassung vereidigten Polizeibeamten und einer unabhängigen Gerichtsbarkeit sichergestellt wird.
Alle drei Punkte gelten hingegen für die ominösen „Sagbarkeitsregeln“ der Unwort-Jury nicht.
Wo kann man diese Regeln nachlesen, um wenigstens zu wissen, was man sagen darf und was nicht? Wer hat diese Regeln mit welcher Legitimation erlassen, und wie kann man sie gegebenenfalls wieder ändern? Und wer entscheidet konkret, ob jemand gegen diese Regeln verstoßen hat, und, wenn ja, mit welchen Sanktionen er belegt wird?
Das ist alles völlig nebulös, um nicht zu sagen kafkaesk.
Am Ende läuft es wohl darauf hinaus, daß mit Bezug auf die bewußten Sagbarkeitsregeln diejenigen Meinungsmacher des Linksliberalismus, die das Weltbild der Juroren teilen, als Gesetzgeber, Polizisten und Richter in Personalunion fungieren.
Jürg Rückert
Das Hinterhältige besteht doch gerade darin, dass die „Regeln“ schwammig gehalten werden, um die Bürger einzuschüchtern.
akinom
„ ‚Sagbarkeitsregeln‘ ist für mich schon jetzt das Unwort des Jahres 2019.“ Unterliegt „Sagbarkeitsregeln“ nicht schon längst alles, was dem Mainstream widerspricht? Werden Verstöße gegen diese Regel nicht allzu oft mit Hass und Gewalt beantwortet,wogegen dann der Aufschrei ausbleibt?
Ich weiß nicht, wie die „schönsten deutschen Wörter“ der letzten Jahre lauten und ob es sie überhaupt noch gibt. Ich hatte einmal vorgeschlagen, das Wort TROTZDEM dafür zu wählen.