Hat Jens Spahn Recht, wenn er feststellt, dass auch ohne Tafeln in Deutschland niemand verhungern muss? Unrecht haben jedenfalls die, die meinen, sowas dürfe man nicht sagen.
Erst vor kurzem hatte ich mich in einem Beitrag darüber echauffiert, dass sich Politiker erdreisten, die Verantwortlichen der „Essener Tafel“ zu kritisieren, weil sie „Bedürftige“ ohne deutschen Pass von der Neuvergabe von Berechtigungen ausschließen. Das Problem sei – so damals ein Fazit – der Sozialstaat selbst, der dazu führt, dass in Massen Menschen bei den Tafeln anstehen, verstärkt noch durch den intensivierten Zuzug offenbar doch nicht ganz für den Arbeitsmarkt bereiter Migranten. Wenn sich also der Chef der Essener Tafel gemeinsam mit seinem Team für ein Einschreiten entscheidet, dann sind Politiker, die Bundeskanzlerin vorne weg, die letzten, die das kritisieren sollten.
Institutionalisierte Hilfeleistung
Andererseits macht der angebliche Skandal um Jens Spahn, der endlich mal wieder etwas Intelligentes gesagt hat und dafür von Parteifreunden und Medien direkt abgestraft wird, deutlich, dass das eigentliche Problem mit meinem Text noch nicht annähernd beschrieben ist. Denn das liegt ganz woanders. Es geht dabei nicht darum, dass es nicht Menschen gäbe, die unverschuldet in Not geraten sind und die der Hilfe bedürfen. Hier zu helfen ist Christen- und menschliche Pflicht. Wer allerdings anfängt, eine solche Hilfe zu institutionalisieren – egal ob als Staat oder als private Initiative – kommt früher oder später nicht um organisatorische Regelungen herum. Und die erste dieser Regelungen zielt darauf ab festzulegen, wer eigentlich Hilfe bekommen soll.
Wo der einzelne Mensch also beispielweise bei einem Bettler auf der Straße entscheidet, ob überhaupt und wenn ja welcher Bedürftige ein kleines Almosen bekommt, diese Entscheidung auch abhängig davon macht, wie sich der Bettler verhält und welchen Eindruck er macht, kann sich ein „Sozialstaat“ eine solche subjektive Entscheidung genau so wenig leisten wie eine Tafel. Aus diesem Grund legt der Staat bestimmte Berechtigungsstufen fest, ab denen finanzielle Unterstützung gegeben wird (dabei nicht zu vergessen: Nicht bezahlt durch den Staat sondern durch die sogenannte, am Ende aber nicht freiwillige sondern erzwungene, Solidargemeinschaft). Nicht anders verfahren die Verantwortlichen der Tafeln, wenn sie beispielsweise eine Hartz-IV-Bescheinigung verlangen, ohne die sich dort niemand bedienen darf.
Verhungern 3,6 Millionen Hartz-IV-Empfänger in Deutschland?
Derartige Systeme sind aber umgekehrt auch eine Einladung zum Missbrauch. Jens Spahn hat zweifellos Recht, wenn er sagt, dass in Deutschland auch ohne Tafeln niemand verhungern müsste. Exakt darauf, eine Mindestversorgung, sind die Hartz-IV-Sätze ausgerichtet. Niemand sollte die Vorstellung haben, dass diese Unterstützung ein angenehmes Leben bieten könnte – dafür ist diese Art der Unterstützung nicht gemacht. Nun gab es in Deutschland im Jahr 2017 rund 4,4 Millionen Empfänger des ALG II. Dem stehen rund 1,5 Millionen durch die Tafeln unterstützte Menschen gegenüber, davon rund 800.000 Erwachsene im erwerbsfähigen Alter, die den Großteil der Hartz-IV-Empfänger abdecken. Heißt das, dass 3,6 Millionen Hartz-IV-Empfänger mit ihren Familien in Deutschland an Hunger leiden? Natürlich nicht.
Warum gehen die nicht zu einer Tafel, um dort Unterstützung zu bekommen? Eine fundierte Antwort auf diese Frage lässt sich kaum geben, es wird viele Gründe geben: Manchen wird es unangenehm sein, diese Art von Almosen anzunehmen, andere werden sich vielleicht auch mit dem zur Verfügung stehenden wenigen Geld arrangieren, wieder andere haben womöglich noch andere Quellen, die sie von Unterstützung unabhängig machen … Bei der überwiegenden Zahl der Hartz-IV-Empfänger, die die Tafeln NICHT nutzen, stellt sich also eher die Frage, wieso die anderen das tun? Auch hier wird es verschiedenste Gründe geben, ein relevanter wird allerdings ein einfacher sein: Mit den Lebensmitteln der Tafeln wird schlicht Geld frei, das für andere Zwecke verwandt werden kann.
Berechtigung zur Hilfe
Ob dieses Geld nun – wie manche argwöhnen könnten – für Alkohol und Zigaretten verprasst wird oder in Bildungsangebote für Kinder gesteckt oder in ein geringes Maß an kultureller Teilhabe investiert wird, ist letztlich egal: Es gibt einen Anreiz, die Tafeln, die man zu nutzen „berechtigt“ ist, zu nutzen, um die staatliche Unterstützung, für die man ebenfalls „berechtigt“ ist und die das zu leisten in der Lage ist, wozu sie gemacht wird, aufzustocken. Ist es da so verwunderlich, wenn die Tafeln nicht ausschließlich diejenigen anziehen, die tatsächlich aus verschiedensten Gründen nicht mit der staatlichen Unterstützung auskommen, sondern auch solche, die darin einen Zuerwerb sehen? Ist es verwunderlich, dass insbesondere Flüchtlinge und Migranten die Leistungen der Tafeln nutzen wollen, die unentgeltlich das aufstocken, was sie vom Staat (wohlgemerkt: NICHT vom Staat) bereits ohne Gegenleistung erhalten?
Kann es also sein, dass die Tafeln, bei allem guten Willen und bei aller ehrlichen Menschenfreundlichkeit, mit der sie betrieben werden, nicht nur das Beste aus den Menschen herausholen sondern im Gegenteil auch ein Anziehungspunkt für diejenigen werden, die es sich in einem Sozialsystem bequem gemacht haben? Bei einer solchen Argumentation wird einem früher oder später das Beispiel der alten Dame vorgehalten, die das ersparte Geld dafür nutzt, ihren Enkeln ab und zu mal eine Süßigkeit zuzustecken, oder die alleinerziehende Mutter, die dadurch ab und zu mal ein Konzert besuchen kann. Will so ein „Marktradikaler“ wie ich denen das streitig machen? Aber die Frage ist falsch gestellt: Natürlich würde ich denen das gönnen, und in einem funktionierenden System hätten wir womöglich Alternativen, um Benachteiligte auf individueller Ebene zu unterstützen.
Die freiwillige Hilfe des Heiligen Martin
Das deutsche Sozialsystem ist aber keines der individuellen Hilfsbereitschaft sondern eines der anhand bestimmter Kriterien nachgewiesenen Berechtigungen. Die dahinter stehende unterschiedliche Mentalität ist nicht zu unterschätzen: Wer eine Berechtigung zu einer Leistung hat, wird auch kein schlechtes Gewissen haben, sie in Anspruch zu nehmen, wenn das eigentlich nicht mehr notwendig wäre. Wer berechtigt ist, Sozialhilfe in Form von Hartz IV zu beziehen sieht sich gleichzeitig berechtigt, Hilfen der Tafel in Anspruch zu nehmen. Nur aus dieser Mentalität entspringt überhaupt erst die Kritik an der Essener Tafel, die scheinbar (!) Menschen etwas vorenthält, wozu sie doch eigentlich berechtigt sind.
Die harte, dabei aber nicht unchristliche Wahrheit ist: Niemand hat ein Recht auf eine solche Unterstützung! Als Christ sehe ich allerdings – wie die meisten anderen Menschen, auch solche, die sich nicht als christlich geprägt begreifen, auch – meine eigene Verpflichtung zur Hilfeleistung. Der auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho überfallene Mann hatte kein Recht auf Hilfe, der Samariter sah jedoch seine Verpflichtung zu helfen. Der Heilige Martin hat dem Bettler freiwillig geholfen, aus einer inneren Verpflichtung heraus, nicht weil der Bettler ihm eine Berechtigung auf die Hälfte seines Mantels vorgelegt hätte.
Unlautere Polemik
Ein funktionierendes System setzt damit eben auf „Bedürftigkeit“ und nicht auf wie auch immer nachgewiesene „Berechtigung“ zu einer Unterstützungsleistung. Dieser Gedanke liegt den Neosozialisten in den Regierungen so fern wie das Risiko, selbst einmal bedürftig zu werden. Und weil das so ist, wird dieses Sozialsystem auch immer ausufern, Ungerechtigkeiten produzieren und eines ganz sicher nicht tun: Zur Selbstverantwortung und zu sorgfältigem Umgang mit den aus Steuergeldern erpressten Ressourcen anleiten. Das Problem ist damit also durchaus auch ein kulturelles: Wenn man die Frage nicht mehr stellen darf, warum 3,6 Millionen Hartz-IV-Empfänger keine Tafel nutzen, und warum diejenigen die es tun, vom Hunger bedroht sein sollten, wenn es die Tafeln nicht mehr gäbe, dann hat neben der Anspruchskultur auch eine Gesinnungsethik Raum gegriffen, die am Ende den individuellen sozialen Gedanken in jedem Menschen abtötet und das Sozialsystem selbst früher oder später kollabieren lassen wird.
Die Frage, ob Jens Spahn mit 416 € Hartz-IV auszukommen in der Lage wäre, ist eine Polemik, die an Unlauterkeit kaum noch zu überbieten ist. Wer diese Frage Hilfsbedürftigen in den Mund legt, will in Wahrheit politisch vom Sozialstaat profitieren. Gerechtigkeit und angemessene Hilfe für Bedürftige hat so jemand jedenfalls nicht im Sinn.
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Bild: Gabi Eder – www.pixelio.de
Konrad Kugler
Zuviel Text für ihre Argumente!!!
Sie haben durchaus recht, aber Schlagworte machen Politik!
Wo ist die große Leserschar, die ich Ihnen wünsche?
Wir steuern auf den Analphabetismus zu.
Unser Kaplan sagt: Wer liest denn heute noch?
Ihre Arbeit ist doch eigentlich Kampf für Ihre Überzeugungen.
Papsttreuer
Ich hoffe nicht, dass niemand mehr liest und der Analphebetismus doch noch ein Randphänomen ist. Aber Sie haben natürlich Recht: Der Beitrag ist zu lang geraten. Mein größtes Problem beim Bloggen: Ich habe keine Zeit, mich kurz zu fassen …
Gottes Segen für Sie!