Gerade als Katholik liest man Aphorismen von Nicolás Gómez Dávila vielleicht gerne als Sprüchesammlung. Sie sind aber so viel mehr.
„Dem Aphorismus vorzuwerfen, nur Teile der Wahrheit auszudrücken, kommt der Annahme gleich, die weitschweifige Rede könne sie voll und ganz ausdrücken.“ Dieser Satz Nicolás Gómez Dávilas steht vielleicht sinnbildlich für sein Werk und die Ein- und Wertschätzung, die man ihm entgegenbringt. Wenn ich ehrlich bin, kannte ich die Aphorismen Dávilas nur aus eben solchen kurzen Wiedergaben, nicht aus einer intensiven Auseinandersetzung mit ihm oder dem Hintergrund der Aphoristik.
Die Gefahr, die in dieser nur kurzweiligen Beschäftigung liegt, ist, dass man dazu neigt, schnell zuzustimmen, ohne wirklich den Sinngehalt vollständig erfasst zu haben. Gerade im politischen Umfeld besteht dieses Risiko in besonderer Weise, wenn man sich die „Rosinen“ rauszupicken erlaubt, die der eigenen Auffassung, nicht selten geprägt von einem Sarkasmus oder einem Fatalismus, entsprechen. Hier im Blog werden Sie beispielsweise des öfteren auf Demokratiekritik stoßen, da ist die Versuchung groß, einen Satz wie diesen zum eigenen Motto zu erheben: „Der demokratische Politiker übernimmt nicht die Ideen, an die er glaubt, sondern die, von denen er glaubt, daß sie siegen.“
Hier auf die Sprünge zu helfen und sich mit dem Werk und Hintergrund Dávilas intenisver auseinanderzusetzen, ist ein Mehrwert von Till Kinzels „Nicolás Gómez Dávila – Parteigänger verlorener Sachen“, das seit Februar in einer überarbeiteten, aktualisierten und erweiterten Auflage vorliegt. Nach dessen Lektüre fühlte ich mich in gewisser Weise ertappt: Dávila pflegt einen ausgeprägten Elitarismus, spricht nicht selten in seinen Aphorismen von Idioten oder Dummköpfen, und es macht nicht den Eindruck, dass er damit Menschen meint, die es tatsächlich nicht so gut mit der Intelligenz getroffen haben, eher schon dass er damit die Masse der Menschen anspricht, die nicht in der Lage sind, die Entwicklungen der Welt einzuschätzen. Darin liegt die Gefahr, diese Kritik an der modernen Gesellschaft – Dávila bezeichnet sich selbst und selbstbewusst als Reaktionär, ein Begriff der sowohl sein Werk als auch das Buch durchzieht, in dem man sich einer Definition annähert – aus der Perspektive des Überlegenen zu sehen, sie nicht für sich selbst anzunehmen.
Bin mit dem Dummkopf im Zweifel ich selbst gemeint, passen die eine oder andere Charakterzuordnung des Dummkopfes nicht auch auf mich? Trifft mich dieser Aphorismus nicht mindestens so sehr wie die, denen ich ihn gerne entgegenschleudern würde: „Zu wissen, welche Reform die Welt braucht, ist das einzige eindeutige Symptom der Dummheit.“? Neben der mangelnden Selbstreflektion kann das aber auch dazu führen, dass man das Werk Dávilas zur Seite legt, weil man sich dem von ihm formulierten Anspruch nicht gewachsen fühlt. Beide Reaktionen – die erste mehr als die letzte – führen aber nicht zu dem Ziel, die Philosophie Dávilas tatsächlich verstehen zu können, um sich notfalls auch an ihr zu reiben.
Insofern kann man Kinzels Monographie durchaus auch als kleines Handbuch zum Werk Dávilas verstehen. Über eine kurze Historie und eine Einführung in die Systematik oder Unsystematik seiner Aphorismen führt er uns durch die verschiedenen „Denkbewegungen“ des Philosophen, die sich mit Aufklärung bzw. Gegenaufklärung, der Ästehtik, des Lesens an sich bishin zur Geschichte und Geschichtsschreibung beschäftigen. Schwerpunkt seiner Arbeit sind aber nicht zuletzt auch die Schwerpunkte dieses Blogs mit Fragen des Glaubens und der Politik. Leicht könnte man Dávila in dieser Hinsicht – sowohl als Christen als auch als politischen Menschen – als Konservativen einordnen, wo er doch eigentlich ein Reaktionär ist. Der Unterschied ist einerseits wesentlich, andererseits nicht in wenigen Worten zu beschreiben, sodass ich es lieber meinem Leser überlassen möchte, ihn sich anhand des Buches zu erarbeiten. Ich meine sogar, eine Kurzauflösung wäre so etwas wie ein „Spoiler“, den ich niemandem zumuten möchte. Wer sich dem bereits gewachsen fühlt, mag aber gerne über zwei vielsagende Aphorismen nachdenken: „Der Reaktionär strebt nicht danach, rückwärts zu gehen, sondern die Wegrichtung zu ändern.“ und „Reaktionär sein heisst begriffen haben, dass man weder beweisen noch überzeugen kann, sondern nur einladen.“
Zwei Dinge sind es am Ende, die mich an Kinzels Buch und der Beschäftigung mit Dávila besonders faszinieren, eine methodische Schlussfolgerung und eine inhaltliche: Methodisch ist es mindestens spannend, sich mit den Aphorismen zu beschäftigen, jedem Einzelnen, um die dahinter stehende Philosophie zu entdecken. Die Sätze nur zu lesen und beifällig zu nicken ist zu wenig; man muss sie betrachten, verinnerlichen, an ihnen arbeiten – nicht unähnlich der Betrachtung von Bibelzitaten, die oft auch neben der direkt einsichtigen Bedeutung wesentlich vielschichtiger sind. So entfaltet ein einzelner Satz einen ganzen Strauß an Bedeutungen, Nebenbedingungen, Implikationen und manchmal auch Seitenhieben, die einen selbst treffen können.
Inhaltlich stellt sich angesichts dessen, was sich heute selbst als „konservativ“ bezeichnet oder als solches gesehen wird, die Frage, ob es für den vernünftigen Menschen, der nicht einfach keine Neuerungen will, sondern die Welt in eine falsche Richtung abdriften sieht, nicht besser wäre, zum Reaktionär zu werden? Dem Begriff haftet bei uns leider etwas Negatives an, nicht wenige meinen mit der „Reaktion“ die Wiederherstellung diktatorischer Gesellschaftsformen. Da ist es gut, Dávila selbst und über ihn zu lesen, um am Ende festzustellen: Ich bin ein Reaktionär … oder besser: Ich wäre gerne auch so ein Reaktionär wie Nicolás Gómez Dávila! Vielleicht wäre es anschließend an der Zeit, den Bloguntertitel zu wechseln in „Katholisch, reaktionär & libertär“?!
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