Michel Houellebecq hat mit Serotonin einen Roman über die Verzweiflung an der eigenen Vergangenheit geschrieben. Weniger spektakulär als „Unterwerfung“, aber nicht weniger eindringlich.
Wenn es heißt „Der neue Houellebecq ist erschienen“, dann kann man mit Recht Besonderes erwarten. Der Franzose gehört wahrscheinlich spätestens seit seinem „Elementarteilchen“ zur ersten Garde europäischer Schriftsteller. Für mich besonders eindrücklich war seine Darstellung einer möglichen – beinahe dystopischen – Zukunft Frankreichs unter muslimischer Regierung in „Unterwerfung“.
Flucht aus der Welt
Wenn man sich auf „Unterwerfung“ eingelassen hat, dann kommt einem auch die Handlung von „Serotonin“ durchaus plausibel vor. Der Ich-Erzähler – ich kann mich nicht erinnern, im Text irgendwo seinen Namen gelesen zu haben – ist ein depressiver Endvierziger (letzteres trifft auch auf mich zu, damit sind die Gemeinsamkeiten aber auch schon weitgehend erschöpft), der sich sukzessive von der Welt verabschiedet – durch das neuartige Antidepressivum „Captorix“, die Flucht vor Freundin und Kollegen, Beruf und Verpflichtungen aus Paris, die vollständige Aufgabe all dessen, was man – abgesehen von gutem Essen und Genuss – als lebenswert betrachten würde.
Nachtrag/25.01.19: Der Hinweis auf den fehlenden Namen war eine Nachlässigkeit von mir; im Gegenteil berichtet der Erzähler in einem Abschnitt sogar ausgiebig über seinen Namen – Florent Claude -, der ihm verhasst ist. Diesen Abschnitt hatte ich nach Ende der Lektüre des Romans nicht mehr „auf dem Schirm“. Ich bitte um Entschuldigun für diesen Fehler.
Bandwurmsätze
Interessanterweise ist das bisweilen sogar amüsant zu lesen, wobei das Stilmittel der nicht enden wollenden Bandwurmsätze durchaus Aufmerksamkeit erfordern und ermüden können. Trotz des möglicherweise mit einen Strudel reißenden Themas fesseln einen (Teil-) Sätze wie:
[…] sollte sich die abendländische Menschheit unglücklicherweise daranmachen, den Zeugungsakt vom Geschlechtsakt zu trennen (mitunter verfiel sie auf den Gedanken), sie auf einen Schlag nicht nur die Zeugung, sondern zugleich auch den Sex verdammen würde, ja sie würde im gleichen Zug sich selbst verdammen, das hatten die identitären Katholiken durchaus gewittert, auch wenn ihre Positionen ansonsten seltsame ethische Verwirrungen beinhalten wie ihre Vorbehalte so unschuldigen Praktiken wie der Liebe zu dritt oder dem Analverkehr gegenüber.
Sexualität ist keine Erlösung
Apropos Sex: Es gibt in diesem wie in den anderen Romanen Houellebecqs (jedenfalls die, die ich kenne) eine ganze Reihe expliziter sexueller Beschreibungen, die ich einerseits in ihrer teils pornografischen Bild- und Wortwahl für unnötig halte. Andererseits ist die Suche des Erzählers nach einem Sinn durchaus ein Ausgangspunkt, die Sexualität zu streifen, die heute in einer seltsamen Mischung aus Glorifizierung und Banalisierung der Geschlechtlichkeit tatsächlich für den einen oder anderen eine religiöse, sinnstiftende Erfahrung darstellen kann.
Immer jedoch, auch für den Erzähler, erweist sich dieser Pfad als nichtig, Sexualität ohne echte Liebe für nichts tragfähig außer der eigenen, sehr kurzfristigen Befriedigung.
Parallelen zu Gelbwesten
Wenn Sie in der Presse über „Serotonin“ gelesen haben, dann vermutlich über eine gewisse prophetische Eigenart der Houellebecq-Romane: So fiel das Veröffentlichungsdatum von „Unterwerfung“ auf den Tag des Anschlags auf das Charlie-Hebdo-Redaktionsbüro. Und in Serotonin hat Houellebecq offenbar einen Blick für die Reaktion verzweifelter Menschen, wie den Freund des Erzählers, Aymeric, der vergeblich versucht, einen aus Adelsgeschlecht ererbten landwirtschaftlichen Betrieb aufrechtzuerhalten, dessen Schicksal – er bringt sich bei einem Protest gegen die Abschaffung von Milchquoten um, was zu tödlichen Krawallen führt.
Die Ähnlichkeit mit den Gelbwesten-Protesten in Frankreich ist naheliegend. Allerdings halte ich gerade diesen Abschnitt, abgesehen von musikalischen gemeinsamen Ausflügen in die Vergangenheit eines Ummagumma-Albums von Pink Floyd, für eher schwach.
Selbstmord als Konsequenz einer Weltsicht
Am Ende der beinahe elegischen Erzählungen wird klar, dass der Erzähler nur sich selbst im Blick hat und nur gerade so eben vor einem Kindesmord zurückschreckt, mit dem er seine Ex-Freundin wieder für sich alleine meint einnehmen zu können. Erlösung von der Depression ist für ihn nicht in Sicht und so entscheidet er sich, selbst zu sterben … auch wenn dies über die Selbstmordphantasien hinaus nur angedeutet wird.
Christus …
Die Welt bietet ihm keine Erlösung und so findet er eine Parallele zu – für Houellebecq als ausgewiesenen Agnostiker wohl durchaus überraschend – zu Christus. Allerdings eine, die sich selbst wieder in den Mittelpunkt stellt, und so an der Erlösung vorbei geht:
Und heute verstehe ich den Sandpunkt Christi, seinen wiederkehrenden Ärger über die Verhärtung des Herzens: Da sind all die Zeichen, und sie erkennen sie nicht. Muss ich wirklich zusätzlich noch mein Leben für diese Erbärmlichen geben? Muss man wirklich so deutlich werden?
Offenbar ja.
… ohne Liebe
Ein Christusbild ohne Liebe, kein Wunder, dass es darin keine Hoffnung gibt. Insofern ist der Weg des Erzählers in die Verzweiflung vorgezeichnet. Womöglich ist damit auch „Serotonin“ wieder ein dystopischer Roman, der den Weg einer Gesellschaft prophezeit, die in weiten Teilen genauso gestrickt ist und von einem liebenden Gott gar nichts hören will.
akinom
Ich musste erst einmal recherchieren, was Dystopie ist. Ich glaube, es ist genau das Gegenteil, was wir heute von unserer jüngsten Tochter erfuhren: Die Botschaft, dass sie uns zum 5. Mal zur Großeltern macht! Deo gratias.
Papsttreuer
In der Tat ziemlich das genaue Gegenteil – Herzlichen Glückwunsch und Gottes Segen für Eltern, Geschwister, Großeltern … und natürlich das neue Leben!
Stefan Schmidt
Auch von mir herzlichen Glückwunsch an ihre Familie. :)
Ihre Nachricht hat mir heute abend, nach einem stressigen und anstrengenden Tag ein Lächeln ins Gesicht und Tränen in die Augen gezaubert.
Möge Gott das neue Leben, Ihr Enkelkind, segnen und behüten.
Es hat wohl schon seinen Grund weshalb wir eben in der Chorprobe so ausgiebig ein schwedisches Halleluja geübt haben. :)